Eugen Gross: Nähe durch Distanz
ÖGFA in der Zwischenzeit 05Plädoyer für eine Architektur der sozialen Nachhaltigkeit
Allerorten ist in diesen Monaten von Angst die Rede, der Angst vor Ansteckung durch den geheimnisvollen COVID-19 Virus, der als aggressive Lungenkrankheit zum Tod führen kann. Die Medien berichteten und berichten immer noch ausführlich darüber, dass die Infektionskurve am Ausklingen ist und zur neuen Normalität zurückführt. Wenn von „neu“ die Rede ist, ist dabei eine andere, atmosphärisch gewandelte Normalität gemeint. Ist es so, und was bedeutet das? Was heißt es für die Kunst, die Architektur, die Kultur als entschlüsselnde Phase gegenüber der Verschlüsselung wie bei einem Computervirus. Letzteres haben wir schon erlebt, auch ich persönlich.
Michael Lehofer, Psychiater und Autor, analysiert in seinem Text „Die unheimliche Erleichterung“ (1) die grassierende Zukunftsangst als nicht nur persönliche des Überlebens, sondern auch als gesellschaftliche des „Blicks in den Abgrund“, wie es der Philosoph Peter Strasser schon vor einiger Zeit nannte (2). Den Virus als Metapher sieht er als Glaubensverlust an die „bessere Zukunft“. Was lähmt ist die weithin „irgendwie verklärte Erwartung“ in einer säkularen Zeit, die der Mensch in seinem Bedürfnis anstrebt, sich die Welt untertan zu machen. Politisch, ökonomisch, ökologisch. Dennoch sieht der Autor in diesem Zustand der Unsicherheit, der auch alle möglichen Verschwörungstheorien hervorbringt, die Chance, die Krise in ihrem Potential einer Umorientierung zu erkennen. Das veranlasst Lehofer offensichtlich zum überraschenden Titel, der bei Bewältigung der Krise von Erleichterung spricht. Das Bild eines abgelegten Rucksacks wie bei einer Wandertour bringt das sinnfällig zum Ausdruck. Es meint, sich von allem unnötigen Ballast zu befreien, der unser gesellschaftliches Leben bestimmt und den Blick auf eine mögliche, wünschenswerte Zukunft versperrt. Social distancing ist das „Jausenpaket“ am Weg zum Gipfel, wenn die Luft dünner wird.
„Nähe durch Distanz“ stelle ich als Zeichen meiner Betroffenheit mit der überraschend auf uns hereingebrochenen Situation voran. Ist das nicht ein Widerspruch? Mit Distanz ist physische Distanz gemeint, zu der wir zur Vermeidung von gesundheitsgefährdenden Kontakten aufgefordert werden. Die hat auch viele schmerzhafte Folgen, kommunikativer und wirtschaftlicher Art. Nähe ist anders, Berührung, Reibung, physische Selbsterfahrung und Ausnützung eines Handlungsspielraumes, auch anstoßen, in Gang setzen, aufrichten.
Dennoch schließen sich Nähe und Distanz nicht aus, zwischen ihnen besteht ein Wechselverhältnis. Gerade in diesen Tagen konnte eine Bereitschaft von einander fremden Menschen zu gegenseitiger Rücksichtnahme, zu Zusammenarbeit, zu erfrischend gesteigertem Gruppenverhalten beobachtet werden. Kooperatives Verhalten in Beruf und Unterricht, familiäres Auftreten und Unterstützen, die Wahrnehmung des routinemäßig genutzten Raumes als anregender Nahraum. Ein Raum, der uns als jungfräuliches Feld anspricht. Als Raum schlechthin, der spricht.
Ist die heutige Ausnahmesituation so neu? Hat es nicht schon Zeiten gegeben, die vor ebensolchen Herausforderungen wie heute gestanden sind? Sicher hat es diese gegeben, ausgelöst durch Naturkatastrophen, Kriege und Epidemien, beispielsweise dargestellt im Landplagenbild am Grazer Dom. Mir ist der Zweite Weltkrieg noch in Erinnerung, den ich als Junger erlebte. Auch da gab es in der Notsituation nach dem Krieg eine große Welle der Solidarität, die einen gesellschaftlichen und ökonomischen Aufbau unterstützte. Ich selbst arbeitete in der Zeit der Sommerferien auf einem Bau, der als kooperatives Wohnprojekt mit Eigenarbeit errichtet wurde. Jeder brachte die Leistung ein, zu der er in der Lage war. Nicht das Geld zählte, sondern das Ausmaß der Bereitschaft. Der gemeinsame Erfolg stellte einen persönlichen Gewinn in den Hintergrund, indem das NOT-WENDIGE als Maßstab galt. Werner Durths und Niels Gutschows Buch „Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre“ (3) vermittelt das deutlich.
Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte ein künstlerischer Umbruch stattgefunden, der die MODERNE einläutete. Das Florett in der Hand der zukunftsweisenden Protagonisten – den Künstlern des Kubismus und der Neuen Sachlichkeit – war die ABSTRAKTION. Auch diese setzt Distanz voraus, die Reduktion auf das Elementare, Strukturelle. Franz Schuster, einer der großen österreichischen Architekten der Frühen Moderne, stellt in seinem Buch „Der Stil unserer Zeit“ die Urform jeder Gestaltung in den Vordergrund, die für ihn die geistige Form eines Gegenstandes ist (4). Sie ist wie bei der Pflanze der Keim, den man nicht sieht, der aber schon das ganze Potential der zukünftigen Gestalt, eben von Architektur, enthält. Von ihr leitet er die Grundform, die Feinform und die Zierform ab, die Stadien der Gestaltwerdung darstellen. Das konstruktive Reservoir der Moderne hat diesen Formen zusammen mit den neuen Materialien Beton und Stahl den Schub gegeben. Mies van der Rohe, darauf angesprochen, welche Aussage er mit seinen zu Ikonen der Moderne gewordenen Häusern verband, zuckte mit den Achseln: „Fast nichts“, war seine Antwort (5). Und dennoch hat die auf die fortschrittlichste Technik zurückgreifende Architektur einen Siegeszug angetreten und eine Gesellschaft verändert. Der ersten Publikation „Bauten und Projekte“, die ich vor 50 Jahren für die Zentralvereinigung der Architekten verfasste, enthält den für das folgende Werk der WERKGRUPPE GRAZ bestimmenden Satz: „Die Architektur soll so wenig wie möglich festlegen, um so viel als möglich an Impulsen zu provozieren“ (6). Distanz fordert in diesem Sinn die Nähe heraus, die erst die Wahrnehmung zum Erlebnis macht.
In eigener Distanzierung und als theoretischer Ansatz, Architektur als Wechselverhältnis von Nähe und Distanz zu interpretieren, möchte ich meine Haltung gegenüber der Architektur als paradoxes Phänomen der empfindlichen Beziehung von RAUMSCHEU und ZEITVERGEUDUNG sehen. In der allein psychologisch zu verstehenden Raumscheu distanzieren wir uns innerlich vom Raum, in der Zeitvergeudung wenden wir uns ihm aktiv zu. Beginnen, mit ihm zu kommunizieren. Psychologisch führt das auf das seelische Grundbedürfnis des Menschen zurück, sich zu behaupten, nicht vereinnahmen zu lassen, und andererseits zu öffnen, dem großen Ganzen sich anzuvertrauen. So lässt es uns auch die Liebe erfahren.
In einem Text, den ich „Wenn ein Haus spricht – eine andere Biografie“ (7) nenne, habe ich darzustellen versucht, wie eine Familie mit ihrem Haus, einem alten Fischerhaus am Ossiachersee in Kärnten, umgeht. Auf ein Buch „Wie Räume mit uns umgehen und wir mit Räumen“ Jürgen Hasses (8) bezugnehmend habe ich dieses als sprechender Raum zum Dialogpartner gemacht. Das Seestöckl, in der Ortschaft Stöcklweingarten am Nordufer des Sees gelegen, erzählt die Geschichte des Raumes, der seinen architektonischen Ursprung im gegenüberliegenden Ort mit Stift Ossiach hat, dessen Name „die auf der Sonnseite Wohnenden“ (slawisch) bedeutet. Über Jahrhunderte war das Stift ein spirituelles Zentrum und ist dies bis heute als Veranstaltungsort des Musikfestivals „Carinthischer Sommer“ geblieben. Das Seestöckl, morgens und abends auf der Schattseitn liegend und im Tagesverlauf die Sonnseitn geniessend – spricht von der Geschichte einer Familie, die ursprünglich aus Italien zugewandert ihre Schicksale in Hüttenbüchern verewigt hat.
Dem Haus hat sich die Familie immer mit großer Distanz genähert, um dem Geist des Begründers in Erfüllung seines Vermächtnisses durch achtsamen Umgang mit dem auf dem Wasser „tanzenden Haus“ – einem Pfahlbau – zu entsprechen. Nicht Furcht, sondern Ehrfurcht war das Motiv. Gleichzeitig wurde das Familienband über mehrere Generationen in kommunikativer Nähe geknüpft, indem die Zeit für permanente Pflegemaßnahmen und Familienfeste im Füllhorn ausgegeben wurde. Der achtsame Umgang mit dem Haus gerade in seiner Ursprünglichkeit und die Wahrnehmung der eigenen Eingestimmtheit auf das einfache Leben in ihm – wie auf einem Boot – verschwisterten sich, um mit dem Seestöckl ein Juwel einer „vernacular architecture“ von Fischerhäusern in traditioneller Holzbauweise zu erhalten.
Distanz und Nähe beschäftigten den Maler Hannes Schwarz sein Leben lang. Für ihn baute die WERKGRUPPE GRAZ am oststeirischen Weizberg 1964 ein Wohn- und Atelierhaus. Für Schwarz, der als Jugendlicher eine nationalsozialistische Eliteschule, Napola genannt (9), besuchte, war die Überwindung des Traumas jener Zeit ein Hauptthema. In Bildern, die den leidenden Menschen in zeichenhaften Verrenkungen zeigen, suchte er nach einer Befreiung, die metaphysische Anklänge wie die Symbolik der Dreiheit in Baumgruppen am Horizont erscheinen ließ. Zugleich war es ihm ein Anliegen, in einem langgezogenen Atelier Distanz zu seinen Bildern zu erlangen. Erst, wenn er bereit war sich ihnen zu nähern, ließ er sie für eine Ausstellung frei. Der Entwurf des bungalowartigen Hauses antwortet unter einem Steildach auf den Trennungswunsch zum Wohnbereich, verbindet diesen aber zugleich durch eine Holzgalerie mit dem Atelier. Die Leichtigkeit in Analogie zum japanischen Haus wird durch eine Rahmenkonstruktion vermittelt, die das Haus vom Boden abhebt und großflächig zur Natur öffnet. Immer steht der schüchtern zurückhaltende Eindruck des Hauses im Kontrast zu der Nähe, die die Familie Schwarz mit allen Freundinnen und Freunden des Forum Stadtpark Graz verband, die eine großzügige Gastfreundschaft unter diesem Dach genossen.
Mein Plädoyer für eine erneuerte Haltung gegenüber der Architektur sehe ich als Wechselspiel von RAUMSCHEU und ZEITVERGEUDUNG, indem eine Manifestation den Echoraum der anderen Sicht darstellt. Gerhard Melzer hat in einem Text in der Kleinen Zeitung vom 17.05.2020 die Stadt in ihrer aufmerksamen Begehung einen Echoraum der Schritte bezeichnet (10). Die Achtsamkeit gegenüber der Umwelt tauscht sich mit Wachsamkeit gegenüber uns selbst aus. Den Architektinnen und Architekten ist nahezulegen, dem eigenen Gewissen treu zu bleiben, eine lebensbejahende Umwelt zu schaffen. Einen ganzheitlichen Ansatz dieser Art sieht der bekannte Architekturtheoretiker Ludger Schwarte als Befreiung der Architektur, die uns als Zeichen der Zeit auferlegt wird (11). Nicht, dass Architektur neu erfunden werden muss, aber in der Distanzierung erscheint sie in einem neuen Kontext.
(1) Lehofer, Michael: „Krisen als Befreiung: Die unheimliche Erleichterung“, in: Kleine Zeitung 17.04.2020, online unter: http://www.michaellehofer.at/presseartikel-2006-bis-2020.
(2) Strasser, Peter: „Das Anmenschelnde“, in: ders.: Morgengrauen: Journal zum philosophischen Hausgebrauch, Paderborn 2017.
(3) Durth, Werner/Gutschow, Niels: „Architektur und Städtebau der Fünfziger Jahre“, Bonn 1987.
(4) Schuster, Franz: „Der Stil unserer Zeit“, Wien 1948.
(5) Posener, Julius (1904-1096), ARCH+, Nr.48, Sondernummer zu seinem 75. Geburtstag, Zusammenfassung S 78, 1979.
(6) Gross, Eugen: „Bauten und Projekte 1960 – 1967“, Katalog der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs, Landesverband Steiermark.
(7) Gross, Eugen: „Wenn ein Haus spricht – eine andere Biografie“, Graz 2020 (vor Veröffentlichung).
(8) Hasse, Jürgen: „Wie wir mit Räumen umgehen und Räume mit uns“, transcript Verlag Bielefeld, 2020.
(9) NAPOLA, Nationalpolitische Erziehungsanstalt.
(10) Melzer, Gerhard, „Im Echoraum der Schritte – Zu Fuß gehen in Zeiten von Corona“, in Kleine Zeitung vom 17.05.2020.
(11) Glettler, Jörg H./Schwarte, Ludger, „Architektur und Philosophie- Grundlagen, Standpunkte, Perspektiven“, transcript Verlag Bielefeld, 2015.
Dieser Beitrag erscheint als Langtext mit weiteren Bildern im September 2020 in der Sonderausgabe 1IX | Innovation statt Isolation – Die Architektur vor und nach COVID-19 in LAMA | Das lösungsorientierte Architekturmagazin, einer jungen Architekturpublikation aus Graz. Mehr Informationen, u. a. zur Heftbestellung, finden Sie unter: www.lama.or.at.