Wie modern ist die Ringstraße?
ÖGFA_Schwerpunkt „50 Jahre Diskurs“ Teil 2: Ökologie und Bestand | mit Renate Banik-Schweitzer, Franz Denk, Barbara Hoidn, Christian Kühn, Vittorio Lampugnani, Christoph Luchsinger
PodiumsdiskussionVor eineinhalb Jahren stellte die ÖGFA in einer Podiumsdiskussion die Frage nach den Chancen und Gefahren eines Masterplans für die gesamte Ring-Zone. Dieser liegt seit November 2014 vor und ist zum vieldiskutierten Gegenstand der Kritik avanciert. Die Verwertung der Ringstraßenanlage als Ressource für High-End- Immobilien gibt sich mit den vorhandenen Volumen nicht mehr zufrieden und steht vor dem folgenschweren Schritt, das Gleichgewicht von Baublöcken, Monumenten und Freiräumen zu kippen.
Vor diesem Hintergrund gilt es nun, 150 Jahre nach Eröffnung der Ringstraße, die Qualitäten, die dabei auf dem Spiel stehen, zu diskutieren. Zu fragen ist nach der Modernität dieses historisch einmaligen Stadtbestandes. Was kann sein stadträumliches Modell? Ist seine emblematische Bedeutung obsolet? Und wie hält es eine demokratische Gesellschaft mit der Frage der Monumentalität?
Marcel Hénaff stellt in seinem Essay „La ville qui vient“ der historischen Stadt, der Stadt als „Monument“, für die Zukunft kein gutes Zeugnis aus. Ihre eigene Erfolgsgeschichte, abgesichert durch ihren Status als „Maschine“ und als „Netzwerk“, hätte im Zeitalter der vervielfachten, nicht mehr verortbaren Netzwerke mit ihren virtuellen Formen von Öffentlichkeit ihre Auflösung zur Folge. Was der Stadt bliebe, wäre der „gemeinsame Raum“ der kleinen Straßen, der Nachbarschaften, der lokalen Stile und Gewohnheiten – auf Wienerisch: das Grätzel.
Paris - nach den Attentaten vom 7. Jänner - liefert ein anderes Bild: Die monumentalen Stadträume sind voller Menschen wie immer, die Place de la République, wo man vor wenigen Jahren durch ein großzügiges Freiraumprojekt einen Ausgleich zwischen Blech und Körpern geschaffen hat und Zentrum der Großdemonstrationen nach den Anschlägen, ist ein „melting pot“ für sich. Warum bevorzugt dieses turbulente Geschehen, das kaum eine Ebene der Privatheit und der Kollektivität ausschließt, gerade den steifen Rahmen dieser im strikten Sinn öffentlichen und monumentalen Räume? Hat sich unser Verhältnis zur ehemals ehrfurchtgebietenden Darstellung von Macht gewandelt? Form und Inhalt scheinen auseinander zu klaffen, und genau das kann, wie es Musil am Wien des beginnenden 20. Jahrhundert beschrieben hat, geradezu als Kriterium einer modernen Großstadt gesehen werden.
Die Anlage der Ringstraße zwischen der Front der ehemaligen Vorstädte und den vorgründerzeitlichen Resten der Innenstadt ist vielleicht das einzige Stadtgebiet Wiens, auf das diese Beobachtung in vollem Umfang zutrifft. Vielleicht ist sie uns zu modern. Text: Andreas Vass
Es diskutieren:
Renate Banik-Schweitzer Stadtforscherin, Mitherausgeberin des Historischen Atlas von Wien, Publikationen zu Wohnungspolitik, Gebäude- u. Städtebautypologien, vergleichende Stadtentwicklung u. -geschichte.
Franz Denk Architekt in Wien; Schwerpunkte Stadterneuerung, Stadtentwicklung u. öffentlicher Raum; Planung, Management, Vermittlung u. Umsetzung im städtebaulich-sozioökonomischen Kontext.
Barbara Hoidn Partnerin des Architekturbüros Hoidn Wang Partner in Berlin gemeinsam mit Wilfried Wang. Adjunct Assiciate Professor am O‘Neil Ford Chair der School of Architecture, University of Texas at Austin.
Christian Kühn Studium an der TU Wien u. ETH Zürich. Unterrichtet an der TU Wien seit 1989, seit 2001 Prof. an der TU Wien, seit 2008 Studiendekan für Architektur und Building Science an der TU Wien. Seit 2000 Vorsitzender der Architekturstiftung Österreich, seit 2009 Mitglied des Beirats für Baukultur im BKA, Kommissär für den österr. Beitrag zur Architekturbiennale Venedig 2014.
Vittorio Lampugnani Architekturstudium in Rom und Stuttgart, seit 1980 eigenes Architekturbüro. 1990-95 Herausgeber von „Domus“, 1990-94 Direktor des DAM in Frankfurt/Main. Seit 1994 ord. Prof. für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, seit 2010 Vorsteher des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur (gta).
Christoph Luchsinger Architekturstudium, wiss. Mitarbeiter u. Dozent für Städtebaugeschichte bei Prof. André Corboz, ETH Zürich. Redakteur von Werk, Bauen + Wohnen. Dozent Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur. Seit 1991 Architekturbüro mit Max Bosshard in Luzern, seit 2009 Prof. für Städtebau und Entwerfen an der TU Wien.
Kuratierung und Moderation: Andreas Vass, ÖGFA
in Kooperation mit dem Wien Museum