Kritik, Aufbruch und Normalisierung - die 60er und 70er und was davon blieb
Podiumsdiskussion"Um zu verstehen, wie ein neuer ‚Geist des Kapitalismus‘ in den letzten dreißig Jahren entstehen konnte, muss man in der Zeit um 1968 ansetzen, einer Phase, die durch ein hohes Niveau der Kritik gekennzeichnet war. Der Kapitalismus hat zunächst – ohne Erfolg – versucht, dieser Krise auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit zu begegnen, um dann große Teile einer neuen Form der Kritik zu verinnerlichen, die Ende der 60er Jahre entwickelt wurde und die sich auf Forderungen nach Autonomie, Authentizität und Kreativität konzentrierte. Die Anpassung des Kapitalismus an diese Form der künstlerischen Kritik, wie wir sie bezeichnen, hat zu seiner Wiederbelebung beigetragen." (Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 [franz. Original 2000])
"Vor allem im Bereich der Kulturtechnik der Architektur gab es in dieser Zeit [1961 bis 1969] eine unverhältnismäßige Ballung utopischer, ja geradezu außerirdischer Ideen. Das reale Ergebnis: Alles, was die Architekturdebatte bis heute geistig, kreativ, intellektuell, konzeptiv bestimmt, wurde in dieser Epoche erdacht und manifestiert. […] Die ebenso visionäre wie reflexive Kraft der 60er Jahre führte zur heutigen postmodernen Architektur, die uns in einer Endlosschleife der steten Repetition gefangen hält. Alles, was wir erwarten dürfen, haben wir schon gesehen. Alles, was neu entwickelt wird, wurde schon einmal entwickelt. Die Architektur ist ein saisonaler ästhetischer Konsumartikel. […] Wir leben heute eine temporäre Eventkultur, die alles ökonomisch verwertet, was einst als basisdemokratische Revolution gedacht war." (Dietmar Steiner: Ohne Sixties wäre die Erde flach, du 742, Dezember 2003)
Kritik, Aufbruch und Normalisierung: die 60er und 70er und was davon geblieben ist. Schon seit einiger Zeit ist unübersehbar geworden, dass es ein neues Interesse an den 60ern und 70ern gibt, vor allem auch in der Architektur. Dabei kann bemerkt werden, dass diese Zeit nicht vorrangig über die ihr zugrunde liegenden Konzepte rezipiert wird, als vielmehr über ihren Stil. Vom Wunsch, auch mit architektonischen Mitteln Institutionen zu verändern, ist wenig geblieben; ein ebenso zurückgedrängtes Thema ist etwa die Kritik am spekulativen Städtebau. Wiedergekehrt ist eine Vorliebe für futuristische Formen, die damals gesellschaftliche Sprengkraft besaßen und nun im architektonischen Mainstream angelangt sind. Insgesamt scheint die Annäherung gesellschaftlicher und architektonischer Fragestellungen verloren gegangen zu sein, jedenfalls wurde sie anders erreicht als damals gedacht.
Aus heutiger Sicht lässt sich diese Zeit nicht nur als gesellschaftskritische charakterisieren, sondern vor allem auch als Beginn des gegenwärtigen Konsumverständnisses, von lifestyle und design. Was in jenen Jahrzehnten die Architekturszene in Österreich und darüber hinaus bewegt hat, was sich davon durchgesetzt hat und was sich lohnen würde, wiederbelebt zu werden, soll an diesem Abend diskutiert werden.
Hermann Czech
Architekt und Architekturforscher, studierte bei K. Wachsmann und E.A. Plischke, zahlreiche Publikationen und Forschungen, Ausstellungsgestaltungen, Architekturprojekte von Lokalgestaltungen bis zum Wohnbau; neuere Publikationen: Hermann Czech (Hg.), Christopher Alexander et al.: Eine Muster-Sprache, Wien 2000.
Otto Kapfinger
Architekturforscher und -kritiker, studierte an der TH in Wien; 1970 Gründung der Gruppe Missing Link mit A.Hareiter und A.Krischanitz, 1978-92 Vorstandsmitglieder der ÖGFA, zahlreiche Publikationen und Ausstellungen zur Architektur des 20.Jahrhunderts in Österreich; neuere Publikationen: Konstruktive Provokation. Neues Bauen in Vorarlberg, Salzburg 2003.
Barbara Holub
Architektin und Künstlerin, studierte Architektur an der TU Stuttgart, seit 1999 "transparadiso" Plattform für beabsichtigte und unkalkulierte Zwischenfälle zwischen Kunst, Architektur und Urbanismus mit regelmäßigen Ausflügen in Randgebiete, mit Paul Rajakovics; neuere Publikationen: Ideal Living. Barbara Holubs Musterbuch, Wien 2003.
Roman Horak
Leiter der Abteilung Kunst und Kultursoziologie an Institut für Kunst und Kulturwissenschaften - Kunstpädagogik der Universität für angewandte Kunst in Wien. Arbeitsschwerpunkte: Urbane Kulturen, Jugendkultur, Cultural studies, Popularkultur, Ethnographie; neuere Publikationen: R.Horak et al (Hg.): Metropole Wien. Texturen der Moderne, Wien 2000; R.Horak et al. (Hg.): Randzone. Jugend und Massenkultur in Wien 1950-1970, Wien 2004 (in Druck).