Christa Kamleithner: Stadt als Netz
Der infrastrukturelle Imperativ
VortragSeit Jahrtausenden existieren Anlagen und Einrichtungen, die man als Infrastruktur bezeichnen könnte, und doch wurde der Begriff „Infrastruktur“ erst in den 1950er Jahren geprägt. Um 1960 war er ein zentraler Begriff in den Entwicklungsprogrammen nationaler und internationaler Organisationen, und nicht zufällig – das jedenfalls wäre die These des Vortrags – überbieten sich in dieser Zeit avantgardistische Entwürfe, die Stadt als Infrastruktur verstehen: als Megastruktur, die Verkehr und Kommunikation beschleunigt, die individuellen Optionen vermehrt und Umwelt kontrollierbar macht. Diese Entwürfe, von Constant etwa, Yona Friedman, den Metabolisten, Archigram, Superstudio oder auch der österreichischen Architekturavantgarde, werden meist als Utopien verhandelt, und doch kommentieren sie die Konsumkultur ihrer Zeit wie den infrastrukturellen Ausbau, der Städte und Landschaften einem radikalen Wandel unterzog.
Der Vortrag versteht diese Entwürfe als historische Quellen, die Auskunft über die Wünsche, Ausschlüsse und Leerstellen geben, die den infrastrukturellen Ausbau begleiteten. Er geht dem Freiheitsversprechen nach, das ihn vorantrieb, ebenso wie seinen Kosten – schließlich ist der mit ihm verbundene Imperativ der Mobilität und Vernetzung nicht ohne den exponentiell gestiegenen Energieverbrauch zu denken, der den Klimawandel und die aktuellen Katastrophen zu verantworten hat. Die Sicherung der fossilen Energie wiederum war Teil jenes infrastrukturellen Ausbaus, der Europa einen sollte, während er sich in den um 1960 im Prozess der Dekolonisation befindlichen Kolonien gewaltsam Bahn brach. Diese spätkoloniale Gewalt müssen wir mit den zeitgleichen Bildern des gesellschaftlichen Aufbruchs in Zusammenhang bringen, um die Gewaltförmigkeit zu verstehen, die moderner Infrastruktur inhärent ist.
Christa Kamleithner
ist Architekturhistorikerin und Kulturwissenschaftlerin. Nach Stationen u.a. an der Universität der Künste Berlin, der TU Berlin, AdBK Nürnberg, Bauhaus-Universität Weimar und am Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung der Universität Konstanz forscht und lehrt sie seit 2024 als Postdoktorandin am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Sie promovierte 2018 mit einer Arbeit zur Genealogie der „funktionalen Stadt“ am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin. Die weit ins 19. Jahrhundert zurückgreifende Vorgeschichte des Stadtkonzepts der klassischen Architekturmoderne, die Städtebau- und Wissensgeschichte verknüpft, erschien 2020 unter dem Titel Ströme und Zonen in der Reihe Bauwelt Fundamente. Ihr aktuelles Forschungsprojekt widmet sich der Figur des „Nutzers“ im Architektur- und Städtebaudiskurs der 1950er bis 70er Jahre und zeigt, wie eng der Aufstieg der neuen epistemischen Figur mit dem Ausbau von Infrastrukturnetzen und der Entstehung neuer Raum- und Umweltvorstellungen verbunden ist.
Moderation: Manfred Russo / ÖGFA