Jörg Gleiter: Parnass und Paradies
Die Zukunft der Architektur im Anthropozän
VortragFredric Jameson hat die Stimmungslage der Postmoderne mit dem religiös konnotierten Begriff des „umkehrten Chiliasmus“ oder der „umgekehrten Endzeitstimmung“ beschrieben.
In großer Verwunderung, erstauntem Verblüffen, aber zum Teil auch nachhaltiger Irritation, sprechen wir heute wieder von einer endzeitlichen Erfahrung, vom Eintritt in ein neues, nun tatsächlich, so will man glauben machen, endgültiges Erdzeitalter, das Anthropozän. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch nach seinen Vorstellungen die Welt soweit verändert, dass die großen Gegensätze von Kultur und Natur, von Schöpfung und Evolution, von Individuum und Gesellschaft, von Innen und Außen aufgelöst sind. Erst sah der Mensch in der Natur die „böse“ Natur im Sinne des strafenden Gottes, dann die „liebe Natur“ im Sinne des liebenden Gottes. Heute ist alles menschengemacht, auf jeden Fall von Menschenhand manipuliert. Es gibt kein außen mehr, alles ist innen, alles ist Entwurf, alles ist Design. In biblischer Verheißung scheint sich der Mensch mithilfe des entwerferischen und damit eben architektonischen Denkens – künstlerisch, wie man mit Friedrich Nietzsche sagen könnte – die Welt zum eigenen Wohlergehen Untertan gemacht zu haben: Parnass und Paradies. Was nun? (Text: Jörg Gleiter)
Jörg H. Gleiter, Lehrstuhl für Architekturtheorie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Architektur sowie Mitglied des Akademischen Senats der TU Berlin. Zahlreiche Gastprofessuren (Venedig, Tokio, Weimar, Bozen) Studium an der Universität Tübingen, TU Berlin, IUAV (Venedig), Columbia University (NY), Mitarbeit u.a. im Architekturbüro Eisenman, Leeser Architecture (NY) Herausgeber der Reihe ArchitekturDenken (Transcript Verlag Bielefeld) und Mitherausgeber der Internetzeitschrift für Architekturtheorie Wolkenkuckucksheim.