UmBau 6/7 | 1983
deutsch, Eigenverlag, 152 S. VERGRIFFENOhne ein deklariertes Themenheft zu bilden, stehen die Beiträge von UmBau 6/7 doch in einem engeren thematischen Zusammenhang. Und obwohl vorwiegend historische Dinge behandelt werden, geht es inhaltlich um sehr aktuelle, zentrale Fragen der gegenwärtigen Architekturdiskussion: Um den Umgang mit der Geschichte, mit den tradierten Formen und deren Sinngehalt, um die Frage der Autonomie der architektonischen Mittel, um die ideologischen und sozialen Momente des Denkmalschutzes, aber auch um den Umgang mit Architekturgeschichtsschreibung - um das kritische Vermögen der Gegenwart, das sich im Wie des analytischen Ansatzes und in der Methode der geschichtlichen Interpretation widerspiegelt.
Daniele Vitale definiert in seinem Text die unterschiedlichen Positionen des Rationalismus und der Moderne in Italien und erklärt aus dieser Gegenüberstellung Giuseppe Terragnis individuellen und autonomen Standpunkt. Terragnis Entwürfe für Bauten in "alter" städtischer Umgebung bieten in ihrer Radikalität bei gleichzeitig höchst präzisem historischem Bewusstsein einen substanziellen Gegensatz zu den heute vielfach forcierten kontextualistischen und oberflächlichen Anpassungen.
Vitales Analyse vermittelt darüber hinaus im Hintergrund die Kontinuität und die Dichte des kritischen Diskurses der italienischen Szene und schließt an die bereits in UmBau erschienenen Beiträge über Aldo Rossi und von Giorgio Grassi an.
Anton Bammer verknüpft mit wienerischer Virtuosität die verschiedensten Begründungsstränge der Aneignung von Vergangenheit im Historismus und schürzt einen neunfach verschlungenen Knoten aus den Triaden Zeit/Vergänglichkeit/Tod - Abwehr/Verdrängung/Sublimierung und Aggression/Aneignung/Schuld. Gegenüber dem synthetisch-versöhnenden Harmonisierungsbegriff des Historismus plädiert er für einen analytisch, Brüche, Zerstörung und Prozesshaftes akzeptierende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, also für die zeithältige, und nicht die zeit-lose Gestalt.
Mara Reissbergers Studie über Theophil Hansens Zinspalais zählt zu den brillantesten und spannendsten Detailinterpretationen der Wiener Ringstraßenarchitektur. Sie entwickelt aus ökonomischen, biographischen, soziologischen, ikonographischen, architektonischen und psychoanalytischen Fakten, Betrachtungen und Deutungen ein faszinierendes Argumentationsnetz der kunsthistorischen Klärung. Reissberger verdeutlicht uns Hansens ungemein vielschichtiges Darstellungsvermögen der kulturellen Ansprüche seiner Auftraggeber und korrigiert damit eindrucksvoll das gewöhnlich kolportierte Bild vom trockenen, blutleeren und akademischen Stilpotpourrie der Ringstraßenära. Emotionalität, Selbstdarstellung und komplexe Bildhaftigkeit stehen auch heute wieder im Blickpunkt einer antipuristischen Debatte.
Géza Hajós zieht einen anderen Schnitt durch die Zeit anhand der Entwicklungsgeschichte des Denkmalbegriffs und dessen Beziehung zu öffentlichen Interessen. Die ständig wachsende Zahl der durch Denkmalschutzmaßnahmen unmittelbar Betroffenen, die in geschützten Ensembles und Ortsbildern wohnen und diese täglich benützen, verlang eine Neuformulierung der Grundbegriffe und der Praxis der Denkmalpflege. Hajós folgert daraus die Notwendigkeit einer "Entmonumentalisierung" der Geschichte: " Wenn heute Arbeitersiedlungen oder Bauernhäuser unter Denkmalschutz gestellt werden, sollten sie nicht zur Erneuerung einer sentimentalischen Nostalgie dienen, sondern zum Verständnis eines verwandelten Geschichtsbegriffes führen, in welchem nicht "die waltende Macht" ästhetisch genossen, sondern eine jedem zugängliche Erfahrung wahrgenommen werden kann".
Klaus Steiner gibt einen Teilbericht aus seiner Forschung zur "Planungs- und Baugeschichte der Stadt Wien 1938-1945". Die städtebaulichen Ideen der nationalsozialistischen Ära konzentrierten sich unter anderem auf die Ergänzung und Fortführung der Ringstraßenzone über den Donaukanal und auf das monumentale Ausgreifen des Stadtzentrums über die komplett auszulöschende "jüdische" Leopoldstadt hinweg zum linken Donauufer. Steiner publiziert damit eine Fülle von bisher nicht bekannten oder nicht zugänglichen Materialien und setzt einen wichtigen Impuls zur Reflexion eines auch in architektonischen Belangen bisher eher tabuisierten und unbewältigten Zeitabschnitts.
Leopold Redls Nachtrag zum Großprojekt der "Donauinsel" zeigt am zeitgenössischen Beispiel die politischen Dimensionen der so genannten rein "sachbestimmten" Planung und Administration, und erhellt die Eigengesetzlichkeit und die Tendenz der Planungstätigkeit der städtischen Verwaltung, politische Entscheidungen und Korrektive immer stärker zu präjudizieren.
Zur Typographie ist anzumerken, dass diesmal versucht wurde, den Angaben der Autoren entsprechend eine stärkere Differenzierung zu erreichen. Daniele Vitales Text beispielsweise enthielt ausgewiesene Zitate (im UmBau Layout: kursiv und in Anführungszeichen) durch Unterstreichung betonte Begriffe (kursiv) und durch Anführungszeichen hervorgehobene Begriffe (normal, in Anführung).
Nach eineinhalbjähriger Pause gibt es also wieder einen UmBau, eine Doppelnummer, die durch den wesentlich erweiterten Umfang und die Qualität der Beiträge für die lange Wartezeit aber entschädigen sollte. Je schneller der "Zeitgeist" vexiert, umso wichtiger wird es, das Geschehen nicht allein umrisshaft nachzuzeichnen und Inhalte auszublenden, sondern vertikale Sondierungen und solide Tiefenschnitte zu führen.
UmBau 6/7
Österreichische Gesellschaft für Architektur (Hrsg.)
Wien 1983
152 Seiten, mit SW-Abbildungen.