Claudia Cavallar, Johann Gallis und Albert Kirchengast: Architekturdialoge im Burgenland
ÖGFA in der Zwischenzeit 04Für die vierte Ausgabe unserer neuen Reihe sprachen wir mit Claudia Cavallar – ihr preisgekröntes Projekt Markt 67 liegt im burgenländischen Weiden –, mit Johann Gallis und Albert Kirchengast, die eine ÖGFA-Exkursionsreihe unter dem Titel „Architekturdialoge im Burgenland“ planen. Beim ersten Termin „Die vernakuläre Chance?“ wird das Gebäude zu sehen sein. Das Gespräch führte Elise Feiersinger.
Wie würdest du die Lage und Umgebung deines Projekts in Weiden beschreiben?
CC: Weiden hat noch einen relativ traditionellen Ortskern. Es gibt einen Anger, von dem kleine Gässchen abzweigen. Teilweise sind diese Gässchen die innere Erschließung eines (geschlossenen) Hofs und teilweise sind es öffentliche Wege, an denen einzelne Gebäude aufgereiht stehen. „Weiden 67“ befindet sich in der Mitte einer solchen Gasse. Das Gebäude rechts fehlt, ebenso fehlen die Häuser in der gegenüberliegenden Zeile, wodurch das Haus von ungewöhnlich viel Freiraum umgeben ist. Diese Verbreiterung irritiert einen, man hat plötzlich das Gefühl, die Straße zu verlassen und in einem privaten Bereich gelandet zu sein, ohne dass dafür Zäune oder andere Barrieren notwendig wären. Man hat also mitten auf der Straße Privatheit.
Die meisten Wohnhäuser der Zeile sind zu verschiedenen Zeitpunkten im 20. Jahrhundert umgebaut, vielleicht auch neu gebaut worden, die Stadln und Wirtschaftsgebäude eigentlich undatierbar. Bis auf ein, zwei Ausreißer, denen man gestalterische Ambitionen ansieht, besteht die Gasse einfach aus Gebautem, vermutlich Selbstgebautem. Trotz des Unspektakulären, sogar Banalen der einzelnen Gebäude, ist ihr Zusammenwirken ansprechend. Die Wahl der Bauherren ist, denke ich, weniger auf das Objekt selbst als auf das Ensemble gefallen, den „Chor“. Gemeinsam mit ihnen wurden daher zwei Entscheidungen getroffen: Einerseits mit dem Neubau innerhalb des Volumens des alten Stadls zu bleiben, und andererseits nach außen hin genauso unauffällig und anonym aufzutreten wie die Nachbarshäuser, also dem „Chor“ ein weiteres Mitglied hinzuzufügen.
AK: Uns hat an diesem Haus vor allem interessiert, wie es einfache Mittel der traditionellen Architektur – die klare Kubatur und das Satteldach – dazu nutzt, um selbstverständlich in der Textur des Dorfes zu bleiben. Im Inneren freilich zeigt sich eine urbane Sensibilität und ganz gegenwärtige „Raumform“, die sich aber bereits außen, im Baukörper abzeichnet.
In diesem Sinn sehen wir die erste der drei ÖGFA-Exkursionen ins Burgenland als „Chance“: dass man sich in alter Tradition aus der Stadt aufs Land begibt und sich dort heutig einfügt – eine Fähigkeit, die wir nicht nur aus den Landhäusern Josef Franks kennen, die Loos ebenso pflegte wie Hoffmann. Dass wir vom Vernakulären sprechen, wo es eigentlich ArchitektInnen-Häuser sind, die wir besuchen wollen, hängt weniger mit einer Paradoxie zusammen als mit einer Aufklärung über Elementares einer Landbaukunst, denn einerseits wurden die burgenländischen Streckhof-Dörfer, von denen gerade die Rede war, durchaus „geplant“, anderseits war auch das bäuerliche Bauen, die anonyme Architektur, durchaus „formgeleitet“. Und wenn wir darüber hinaus Loos‘ Lehre heranziehen wollen, seinen charmanten Aufruf von 1913, dann wollte er vom Land und auf dem Land lernen, was sich dort als umso klarerer Prinzipien der Architektur abzeichnet: Warum sie so aussieht, wie sie aussieht, hängt für ihn unmittelbar mit Lebensäußerungen von Menschen zusammen, die ablesbar blieben in der Gestalt eines Bauwerks, die der „Architekt“ in Häuser übersetzte. Hierfür musste er/sie sich aber zunächst um das Leben der Menschen kümmern, er musste es begreifen …
Aber auch die Frage der Ökonomie ist natürlich beim vernakulären Bauen zentral, die knappen Mittel, wie du erwähnst.
CC: Das Haus in Weiden ist ja ein Ferienhaus – also Luxus. Es gibt, meiner Ansicht nach, schon den Ansatz, die vom gesetzlichen Rahmen gewährten Möglichkeiten unbedingt auszuschöpfen – also Wert im Sinne von Quadratmetern zu schöpfen: Die Nachbarn waren entsetzt, dass wir die erlaubte Kubatur nicht ausgenutzt haben. Dass sich die Bauherren dafür entschieden haben, das nicht zu tun, sondern räumliche Großzügigkeit und Abwechslung, bei gleichzeitig relativ minimalem Komfort mitgetragen haben, war ein Glücksfall. Sie hatten auch kein Interesse an einer schleichenden Privatisierung des öffentlichen Raums durch Absperrungen oder „abwehrendes“ Gestalten – ein Verhalten, das man sonst häufig beobachten kann.
Das ist umso bemerkenswerter, weil wir wirklich ein sehr, sehr kleines Budget hatten und damit unter anderem die Werte des Energieausweises erreichen mussten, was das Bauen nicht eben billiger macht. Ziel war es, möglichst sparsam zu bauen: Sparsam, was das (beschränkte) Budget der Bauherren, aber auch was den Arbeitsaufwand und den Materialverbrauch anging. Im Prinzip: möglichst wenig Schichten und Verkleidungen; Bevorzugung von lokalen Materialien; Verwendung von Materialien, die beim Altern einen gewissen Reiz entwickeln bzw. die leicht und billig „erneuerbar“ sind – z.B. durch einen neuen Anstrich –, sobald sie schäbig wirken.
AK: Das sind Prinzipien, die mich selbst und Inge Andritz im Moment in unserer Entwurfsklasse an der TU Wien beschäftigen: Wie könnte sich eine „vernakulare Moderne“ darstellen und was wäre hierfür zu lernen aus den gerade im Burgenland einmal hoch gelobten – Roland Rainer! –, aber auch hier, abseits der Freilichtmuseen und Kellergassen, verschwundenen Bauten und Struktur. Was wären adäquate Maßgaben für die Gegenwart, wie bleiben wir modern, ohne urban sein zu müssen? Oder ist und bleibt die Moderne eine urbane Bewegung? Ich denke, nein, wenn es die Bürger etwa aufs Land zieht …
Julius Posener erwähnt in einem unveröffentlichten, kurzen Text, dass diese Bauten eine Prägnanz auszeichne, die aus Beschränkung entstehe und dabei das genaue Abbild einer Lebensrealität, eines politischen Gefüges sei. So weit, so bekannt. Er prägt allerdings auch den Begriff „Anagogie“, um ein pädagogisches Potential und analoges Lernen daraus zu beschreiben und eine Strategie zu entwickeln für die Gegenwart. Zugleich spricht er von den Beschränkungen, die am Werk waren und die man sich nun bewusst auferlegen müsse: ein hochaktuelles Thema! Wir müssten sie uns selbst auferlegen und hierbei doch nicht nur das Gesehene übernehmen, sondern übertragen, meint er. Mir scheint das ein zukunftsträchtiges Konzept in Zeiten zunehmender Krisen, in denen wir wieder auf die existenzielle Notwendigkeit der Versorgung mit primären Mitteln verwiesen sind. Und ich meine damit nicht nur Nahrungsmittel, ich meine auch Raum, Luft, Landschaft … Ich frage mich allerdings, wie man ein neues Verständnis von Stadt und Land gewinnen wird, während sich unseres Städte überhitzen (und neue Landepisten gebaut werden …), sich unsere Versorgung mit lebenswichtigem Gut über die ganze Welt (mit Engpässen) verteilt hat. Eine Chance liegt darin, dass sich die Beziehung des Städters zum Land wieder ergänzen könnte um eine existenziellere Dimension und das Bauen dies in seine „Form“ aufnimmt. Freilich müsste man die urbane Verfeinerung erhalten, die moderne Diversität, Die Errungenschaften einer liberalen Gesellschaft – entgegen der heute spürbaren Tendenz aufs Land als Part-Time–Eskapismus.
JG: Unsere Tour wird zu Objekten führen, die das Vernakuläre auf sehr unterschiedliche Weise interpretieren – alle gemeinsam haben diese aber, dass sie sich auf differenzierte Weise auch mit Bauplatz, mit dem konkreten Ort und dessen Umgebung auseinandersetzen.
So fügte beispielsweise Anfang der 1990er-Jahre der damals frisch von der Hochschule in die Region zurückgekehrte Architekt Fritz Brandlhofer in St. Margarethen ein Wohnhaus in eine Hintaus-Situation am Ende eines Weges ein. Er näherte sich auch in der Materialität diesem dörflichen Gefüge, denn das Haus besteht aus Hohlblocksteinen aus Beton, die im Inneren zu großen Teilen roh belassen, im Äußeren weiß verputzt wurden, um so an die unmittelbare Umgebung weiß gekalkter Wirtschaftsgebäude, aber auch den aus der Nachkriegszeit stammenden Scheunen in derselben Bauweise anzuschließen. So fügte Brandlhofer – er stammte aus einer Baumeisterfamilie und hat bei diesem Haus teilweise selbst die Ausstattung eingebaut – das modernistische Bauwerk sensibel in die Umgebung ein und thematisiert auch die Nachhaltigkeit auf vielschichtige Weise: Die Außendämmung besteht etwa aus Heraklith – Styropor war schon damals für ihn kein Thema. Das Besondere an dem Objekt ist weiters, dass es in Brandlhofers Oeuvre sein Erstlingswerk darstellt und generell den Auftakt in einer Reihe durchaus innovativer Wohnhäuser am Beginn der 1990er-Jahre setzt, welche der burgenländischen Architektur einen neuen Schwung gab, zudem eine neue Auseinandersetzung mit der lokalen Bausubstanz einleitete – abseits der in den 1980er-Jahren propagierten „Fassadenaktionen“, die in verflachter Weise auf die durchaus innovativen Dorferneurungsaktivitäten der 1970er Jahre der Architektengruppe Reichel Kaitna Smetana zurückgehen.
Claudia, bei Fritz Brandlhofer gibt es doch eine vergleichbare Vorgangsweise wie bei Markt 67. Und aus unseren Gesprächen weiß ich, dass Du Dich intensiv mit dem Prozess der Entscheidungsfindung auseinandersetzt – man könnte fast sagen im Dialog mit den Textarbeiten von Hermann Czech.
CC: Nachdem ich die Beschreibung des Hauses von Fritz Brandlhofer gelesen habe, kommt es mir so vor, als hätten wir ein unbewusstes Reenactment gemacht – die Entscheidungen, die Materialien sind sehr ähnlich, ich bin sehr gespannt, wie das Haus aussieht und es ist sehr traurig dass er dieses Frühjahr gestorben ist.
Das Thema Zweitwohnsitz ist zwiespältig. Für das Haus in Weiden gibt es jedoch ein außergewöhnliches Nutzungskonzept. Würdest Du dieses erläutern und erzählen, wie es entstand?
CC: Das „Sharing Concept“ ist von den Bauherren, während wir schon geplant und gebaut haben, entwickelt worden. Aus dem Gedanken heraus, dass das Haus sonst einen Großteil der Zeit leer stünde und das eigentlich nicht der ressourcenschonendste Umgang wäre … Die Bauherren haben diese Idee in einschlägige Medien – beispielsweise Immobilien-Beilagen – veröffentlicht und die Interessenten anschließend getroffen: eine Art open call.
Es ist glaube ich etwas anderes, wenn man etwas teilt, was einem nicht gehört, oder zu dem man keine Bindung hat oder eben etwas sehr Persönliches wie das eigene Haus – das fand ich am Erstaunlichsten daran.
Das Haus ist ja auch gut an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden …
CC Das stimmt. Während der Baustelle, sind wir jede Woche einmal mit dem Zug von Wien nach Weiden gefahren. Das war für die Bauherren auch ein Grund für die Wahl von Weiden: dass die Kinder allein mit dem Zug hinfahren können.
AK: Freilich ist nicht nur das im Burgenland mehr als „ausbaufähig“ – denn es bleibt weiterhin unmöglich in Österreich auf dem Land zu leben – ohne Auto. Auch fehlt es genau an der Erkenntnis, wie sehr solche Hausformen strukturbildend sein könnten und – letzten Endes – Wege verkürzen.
Um darauf zurück zu kommen: Es fehlt am Verständnis, dass Beschränkung – zum Beispiel in der „einseitigen“ Orientierung auf der Parzelle, wie sie alle Streckhöfe kennen – einen Mehrwert darstellt, durchs erwähnte „Hintaus“, den Übergang in die Landschaft, oder aber die platzbildende Rolle nach Vorne, wenn ein öffentlicher Ort entsteht, magisch sozusagen, durchs einfache wie rücksichtsvolle Zusammenstehen privater Häuser. Wir kennen ja alle das historische Bild burgenländischer Frauen und Männern auf ihren Bänken, in pittoresken Straßen, unter knorrigen Bäumen, Kleinvieh rundum. Das ist Städtebau par excellence und benötigte nichts anderes als – eben – eine Transformation in die Gegenwart. Dazu ist in weiterer Folge jene Baumasse nötig, die die mächtigen burgenländischen Genossenschaften als „Lebensabschnittswohnen“ vermarkten: billige Materialien, modischer Zuschnitt, ortsfremde Typologien … Wir haben uns bei der Auswahl der Projekte daher tatsächlich an eine „entworfene“ Architektur gehalten und durchaus schöne Beispiele einer wechselvollen Annäherung ans Land gefunden, die freilich hier gerade keine Schule machen. Wer als Architekt – ich verwende bewusst nur die männlich Form – hier baut, muss so bauen, wie es die Politik und die politiknahen Genossenschaften verlangen. Und das ist derzeit ein Schuhschachtelmodernismus nach Passivhausstatus.
JG: Leider ohne Nachhall war auch eine Reihe exemplarischer Bauten, die 2014 im Buch „Archaische Moderne“ erstmals als Gruppe diskutiert wurden. In den 1960er-Jahren werden unter der großen Aufmerksamkeit einer nationalen, aber vor allem Wiener Öffentlichkeit von Leitfiguren der Nachkriegsmoderne im Burgenland exemplarische Bauten ausgeführt, die alle auf die Strukturen und Bauwesen der Region antworten.
Einerseits durch Roland Rainer aber auch durch Ernst Hiesmayr, der in den 1960er-Jahren mit der Nikolauszeche in Purbach, dem Umbau eines denkmalgeschützten Gebäudes, erstmals auf dem Land baute. Infolgedessen setzte er sich in einer ganzen Reihe an privaten Wohnhäusern mit der lokalen Bautradition auseinander. In der Exkursion werden wir eines der späteren Projekte aus dem Jahr 1985 in Oggau sehen. Ebenfalls ein Wohnhaus für eine bürgerliche Familie. Dort nähert er sich mit der Baukörperdurchbildung der Großform und auch in Teilen der konstruktiven Ausbildung durchaus an ortsübliche, aus Bauernhäusern bekannten Formen und Konstruktionsweisen, gestaltet aber den Grundriss nach internationalen Vorbildern mit offenem Wohnbereich und einem durch einen Zwischenflur getrennten privaten Bereich. Er kombiniert diese Elemente auch in der Außenerscheinung, der Fenstersprossung, der Wahl der Rauchfänge usw. Heute würde das wohl als eine “ländliche Postmoderne“ bewertet werden.
Schauen wir nochmals genau hin auf das Bauwerk von Claudia Cavallar: Erzähl bitte vom Innenleben deines Hauses.
CC: Das Innenleben könnte man wegen des großen Luftraums auch mit dem Prinzip „Verschwendung“ bezeichnen –ich glaube Gio Ponti hat einmal behauptet, dass jede Wohnung wenigstens einen Raum haben sollte, wo der Abstand von Wand zu Wand mindestens vier Meter beträgt. Andererseits kann man das erwähnte Nicht-Ausnutzen der möglichen Fläche natürlich auch als Beschränkung auffassen …
Ab dem ersten Besuch war klar, dass der große hohe Raum des alten Stadls erhalten bleiben sollte (wenn auch in einer neuen Inkarnation). Dazu war es wichtig zu gewährleisten, dass verschiedene, möglicherweise inkompatible Situationen, parallel ablaufen können: Dusche, WC und Schlafzimmer sind geschlossene Räume, bei denen man die Tür hinter sich zu machen kann. Der Balkon des Schlafdecks und die darunterliegende Sitznische sind artikulierte, privatere Bereiche des großen Raumes; der öffentlichste Raum ist die Küche mit dem großen Esstisch, von der man direkt in den Garten kommt, und der durch seine Großzügigkeit als Puffer zwischen drinnen und draußen geeignet ist.
Die Räume und Raumnischen sind wie in einem Puzzle aus dem vorgegebenen Volumen herausgeschnitten, ineinander verzahnt und räumlich zueinander und zum Ganzen in Beziehung gesetzt. Insofern könnte man vermessen sagen; man hat sich an Loos orientiert. Gleichzeitig mit den Trennwänden und Decken wurden die Stauräume geplant und ausgeführt, um die Resträume für die Unterbringung der Geräte und Dinge zu nutzen. Die Konstruktion und auch das Prinzip, dass die Räume so „ineinandergepuzzelt“ wurden, bringt es mit sich, dass man nichts verstecken kann – es gibt nichts, was nicht sichtbar ist, man sieht das Unten, das Oben, das Vorne, das Hinten …
Mir scheint, dass Du auch nach Fertigstellung eines Projekts den Kontakt mit den Auftraggebern und Auftraggeberinnen langfristig pflegst. Interessiert es dich, ein Projekt über einen langen Zeitraum zu begleiten?
CC: Eigentlich ja. Ich denke darüber nach, wie die Sachen altern. Das bestimmt dann auch, wie ich etwas mache. Wie schaut das in 30 Jahren aus? Oder wie schaut es aus, wenn die Leute ausziehen? Wenn der nächste kommt der das nicht mitentschieden hat, wie empfindet man das? Ist das jetzt zu affig? Ist das zu individuell? Löse ich ein Problem, das es gar nicht gibt? Das ist, finde ich, eine gute Frage: Du stellst Dir vor, du kommst in 15 oder 20 Jahre in diese Wohnung. Würdest Du etwas rausreißen oder nicht? Das hilft manchmal Dinge zu entscheiden.
Das heißt, die Identifizierung spielt eine große Rolle – mehr als die Ästhetik …
CC: Ich finde nicht, dass immer alles perfekt sein muss. Viele Leute verwechseln Architektur mit „Es hat eine scharfe Kante, es ist ordentlich und glatt“.
Aber ich finde es ist in manchen Fällen wichtig, dass etwas – in Ermangelung eines besseren Begriffs – „schlampig“ ist. Das ist eigentlich keine architektonische Technik. Es ist ein bisschen das Paradox, das Josef Frank in seinem „Akzidentismus“-Aufsatz beschreibt: „… als wäre etwas durch Zufall entstanden“. Hermann Czech hat sich dann damit auseinandergesetzt, wie man das interpretieren kann. Josef Frank versprach sich von diesem Zugang größere architektonische Vielfalt. Ich erwarte mir vom „Schlampigen“ eine größere Beiläufigkeit, eine geringere Betonung des Visuellen – heute will ja schon jeder Lichtschalter, dass man ihn anschaut – zugunsten einer eher körperlichen Wirksamkeit. Aber manchmal hat man ein schlechtes Gewissen, dass man under-defined ist. Under-detailed. Under-conceptualized.
AK: An diesem Punkt der Frankschen Moderne kommen wir in das Spannungsfeld des Ländlichen, Beiläufigen, Informellen – das ja nicht zuletzt der gestresste Städter sucht. Eine Moderne, die sich zum Teil – und ganz im Gegenteil zum landläufigen Verständnis – geradezu aus der Auseinandersetzung mit der hiesigen wie mediterranen ländlichen Architektur formal und geistig konfiguriert hat. Heute wird das in Bereichen der kritischen Historiografie der Moderne wieder gewürdigt, während das ländliche Einfamilienhaus das vermeintliche Modell eines „modernen Hauses“ kopiert: Flachdach, ab und zu Pultdach, scharfe Kanten dank Dämmung … So wie du es beschreibst. Daneben gibt es natürlich weiterhin Bungalows und palladianische „Villen“. Einfalt der Vielfalt.
Ich finde eben, umgekehrt, die Zuwendung zu den Bauformen des Landes vonseiten Wiener Architekten sehr interessant: Sie beginnt bei der Wagner-Schule und reicht über Bernard Rudofsky und Raimund Abraham – mit internationalem Einfluss durch Schriften und Ausstellungen – bis hin zu Roland Rainer und somit auch ins Burgenland. Aber eben auch Josef Frank setzt sich mit dem Landhaus in Wort und Bau auseinander und pflegt ein entspanntes Wohnklima – entwirft das Beiläufige der Sommerfrische. Übrigens auch das ist ja so eine Paradoxie, den Zufall entwerfen zu wollen, wie es ja auch die Aneignung des Vernakulären ist …
CC: Der Bezug zur Vergangenheit bedeutet auch ein Wissen über die Vergangenheit. Die Generation von Frank knüpfte sehr bewusst an eine architektonische Tradition an – sowohl an einen klassischen Kanon als auch an das Vernakuläre. Wenn ich etwas nicht kenne, wenn es mir fremd und unverständlich bleibt, kann ich auch nicht daran und damit weiterarbeiten.
Ich finde die Art der Aneignung sehr interessant – gerade in den frühen Arbeiten von Frank werden Vorlagen intensiv bearbeitet. Es geht dabei nicht um die Übertragung aus ähnlichen Verhältnissen, sondern um die Verwendung von etwas aus einem anderen Kulturkreis, das für die Lösung der Aufgabe geeignet erscheint: Schwedische Balkendecke, warum nicht? Chinesische Sessel, anytime! Heute erscheint es mir so, dass ein als akzeptables Vorbild heranziehbares Vernakuläres viel lokaler sein muss; drastisch gesagt: burgenländische Bauernhäuser als Vorbilder für das Burgenland. Das Burgenland (oder andere Landstriche) sind genauso in die Globalisierung eingebunden, wie die Städte, aber was in einem architektonischen Diskurs als vernakuläres Vorbild möglich ist, ist eng umrissen.
Ich finde ja nicht, dass es verwerflich ist, Abwechslung zu versuchen – man kann eigentlich nicht so entwerfen, als sei etwas zufällig entstanden aber man könnte z.B. davon Abstand nehmen, dass nur die kompromisslose Umsetzung eines Projekts architektonische Erfüllung bedeutet. Man könnte sich auch nach anderen Vorbildern umsehen: die englische Architektur hat ein viel lockereres Verhältnis zur Unregelmäßigkeit, zur Nicht-Symmetrie, zur Ad-hoc-Entscheidung als die Kontinentale – ein Haus mit 11 verschiedenen Fensterformaten, auf einer 10 Meter langen Straßenfront und 2 Stockwerken? Doch, das geht. Man könnte als Architekt auch manchmal sagen, dass man jetzt gerade keine Lösung für eine Aufgabe, für ein Problem hat und das auch argumentieren – gewissermaßen Mut zur Lücke zeigen… Es macht natürlich auch Spass, sich an einem Ort mit den dort herrschenden Eigenheiten auseinanderzusetzen –Hitchcock zu Peter Bogdanovich: „When I am given a locale — and this is very important in my mind — it's got to be used, and used dramatically. We're in Holland. What have they got in Holland? Windmills? Tulips?“ Im Burgenland haben wir Baumärkte und eine umfassende DIY Kultur – das war unser Ausgangspunkt.
AK: Ich denke, die positive Zuwendung zum Einfamilienhaus als Bauauftrag eines realen Wohnwunsches der Massen und somit zur Möglichkeit der Strukturbildung, geht uns ab: Letztlich ist eine Stadt eine Struktur vieler Häuser, die Plätze möglich machen, Begegnungen, Erfahrungen … Es fehlt also an einer Stadtbaukunst des Landes, die freilich Städtebau betreiben müsste, wiewohl das Wort „urban“, das ja verfeinert heißt, eben durch „beiläufig“ und andere Definitionen ersetzt werden könnte, die das Proprium des nicht nur frivolen sondern vor allem ja mühevollen – realen – Landlebens erfassen. Die positive Unordnung der ländlichen Zwischenräume, bedingt durch die informelle Regelung des Arbeitsalltags, das Zusammenspiel der Habitate, die Überschneidung von Lebenssphären und Interessen – über allem der Eindruck der sich wandelnden Natur und die Präsenz er existenziellen Aufgabe des Bauern, die Versorgung zu sichern, dabei aber die Kultur der Sparsamkeit und Reparatur usw. usf. weisen dennoch auf Potentiale für die Zukunft. Arbeiten und Wohnen müssten dabei näher zusammenrücken, Kenntnisse müssten wachgerufen werden, die jetzt als Freizeitaktivitäten erworben werden – das häusliche Brotbacken wurde in der Corona-Krise ja legendär …
Es muss erlaubt sein, angesichts einer strauchelnden Wirtschaft und des offensichtlichen Versagens der Klimapolitik, der Architektur als Schafferin von Lebensraum und Überlebensqualität gleichermaßen eine zentrale Rolle zuzubilligen. Ein Abglanz davon zeigt sich an den gewählten Bauten der Exkursion – in jenem Bundesland, dass es da wohl am schwierigsten hat und derzeit keine Anzeichen zeigt, sich in diese Richtung zu verändern … „Rettet das Dorf“, wie Teresa Distelbergers Film heißt, der auch im Burgenland (in einem Kino an einem Abend) gezeigt wurde, wäre dann eigentlich eine Aufforderung zu Lokalität ohne Enge, zu Lebensstrukturen, die nicht mehr nur komplementär zur Stadt funktionieren: zu einem qualitätsvollen Zusammenleben abseits der kapitalisierten Metropole. Ich weiß, dass ich hier zu träumen scheine, wann aber wäre mehr Grund dafür, als heute?
Um das dennoch auf architektonische Beine zu stellen: Mich fasziniert etwa die von Tony Fretton im ÖGFA-ZOOM-Vortrag geäußerte Idee eines „unconscious collective“ – daher eines geteilten architektonischen Vermögens unserer Gesellschaft, einer breiten Architektur, die kein Wettkampf der erwähnten Bild-Ideen und Einfälle ist – keine falsch bewertete Kreativität, ja, letztlich von einer anderen Rolle des Architekten in der Gesellschaft spricht. Das beginnt beim Selbstbild.
JG: Um auf unsere Reihe zurück zu kommen: Generell soll sie ja verschiedenste Zugänge zur Baukultur ebnen und das möglichst reichweitenintensiv – so plakativ das auch im ersten Moment klingt. Denn es wäre ja fast schade, wenn wir hier einen Dialog über das Bauen am Lande nur in einem kleinen, auf der Fachebene angesiedelten Rahmen veranstalten, in welchem wahrscheinlich ohnehin grundlegender Konsens darüber herrscht, wie die Problemstellungen und Herausforderungen für das Bauen auf dem Land heute sind. Daher ist es sehr positiv, dass der ORF Burgenland die Medienpartnerschaft übernommen hat, um diesem Thema auch eine entsprechende Reichweite zu geben, um diese Best-practice-Beispiele auch Bauherrn, Gemeindeverantwortlichen oder anderen Akteuren des Bauens auf dem Land näherzubringen, einem anderen Personenkreis also als dem ohnehin im Architekturbetrieb involvierten.
Wir haben bei der Konzeption aller Dialoge auch immer versucht mit den Themen vom Bestand, von historischen Phänomenen auszugehen, dann aber von dort aus in die Gegenwart und vor allem auch in die Zukunft zu blicken: Was dieses Erbe bedeutet, was man davon lernen könnte. So beispielsweise auch beim auf die „Vernakuläre Chance“ folgenden, zweiten Burgenland-Dialog über den Architekten Rudolf Hutter. Rund 20 Jahre lang prägte Hutter, der sein Studium in den 1920er-Jahren an der Fachklasse für Architektur bei Josef Hoffman an der Kunstgewerbeschule absolvierte, wie kein anderer die Bautätigkeit der Pöttschinger Siedlungsgenossenschaft, schuf die erste moderne Reihenhausanlage des Burgenlandes, führte das erste Laubengangwohnhaus in der Region aus und mit dem Hochhaus in Mattersburg eines der wohl bekanntesten, aber gleichzeitig auch umstrittensten Gebäude des Landes. Gleichzeitig machte sich Hutter einen Ruf als versierter Planer von Gewerbebauten und auch von privaten Wohnhäusern und Villen für eine gehobene Bürgerschicht in der Region– wie heute noch zahlreiche Wohnhäuser, die zwischen Fortschritt und Konservatismus spielerisch changieren, zeigen.
AK: Das passt gut zum Wunsch nach dem «ländlichen Wohnen» im Eigenheim, wie er im Haus von Claudia Cavallar – zwar noch aus Sicht des Wochenendausflüglers aus der Stadt – angesprochen ist. Wir suchen ja mit der Exkursion, wie du sagst, Architektur politisch und gesellschaftlich einzubetten, um so «bei Land und Leuten» anzukommen. Daher wird die dritte Exkursion in der Reihe sich mit dem über lange Strecken Fortschritt bringenden Kirchenbau beschäftigen – eine Zeit lang bekanntlich der Impulsgeber architektonischer Ideen nicht nur auf dem Land. Auch hier, wie bei Hutter, geht es mit der Figur Josef Patzelts um eine vielschichtige und begabte Persönlichkeit, die vergessen wurde – und die Pflege der eigenen Baugeschichte, um sie nicht nur wertzuschätzen, sondern folglich auch vor Verfall, Umbau usw. zu schützen. Es kann ja nicht sein, dass wir heute die gesamte Vergangenheit «wegräumen», so sie nicht unter Denkmalschutz steht! Und was steht hier, im Burgenland, schon unter Denkmalschutz, das jünger als hundert Jahre alt ist …
Das Thema des kulturellen Gedächtnisses von Bauwerken scheint mir daher auf vielfache Weise – wie auch die fehlende architekturhistorische Aufarbeitung der «Landmoderne» – nur ein weiteres der vielen Themen, die wir heute nicht ansprechen können. Aber deshalb gibt es ja die Exkursionen – und mit Claudias Bauwerk einen der architektonischen Anreize, daran teilzunehmen. Wir hoffen daher, dass sie bald nachgeholt werden können, denn angeschlossen daran folgen Diskussionen, die von uns und Norbert Lehner vom ORF Burgenland moderiert werden: unser Gespräch ist also auf mehrfache Weise ein Auftakt, denn Claudia ist auch aufs Podium eingeladen.
Im Sinne der Institutionen, die das stützen – ÖGFA und DOCOMOMO Austria, aber auch des ORF – wollen wir ein tatsächlich offenes Forum bieten, um verschiedene, entpolitisierte und doch kritische Perspektiven auf die Architektur zu werfen. Man glaubt gar nicht, wie wenig Architektur Thema ist, wie wenig weit gediehen unser Bewusstsein ist, das Architektur unser Leben formt.
In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens hat sich die Österreichische Gesellschaft für Architektur intensiver als zuletzt mit den Geschehnissen im ganze Land auseinandergesetzt. Es ist uns ein Anliegen, das Blickfeld neuerlich zu erweitern und verschiedene Gesprächspartner und Kooperationen quer durch das Land zu suchen. Unsere drei Exkursionen sind die Fortsetzung einer Veranstaltungsreihe, die mit der Podiumsdiskussion „Anlassfall Nachkriegsmoderne. Brutalismus im Burgenland“ am 30. April 2019 begonnen hat. An diesem Abend trafen Experten, Protagonisten und Zeitzeugen auf ein interessiertes Publikum in Eisenstadt. Die sachkundige und lebhafte Debatte wurde kurz danach im Radio Burgenland ausgestrahlt. Eines unserer Ziele war es, Verständnis für die verschiedenen Sichtweisen der verschiedenen Akteure zu fördern – aus meiner Sicht ist es uns beim Auftakt gelungen, einen Schritt in die richtige Richtung zu setzen. Ich freue mich daher auf die Fortsetzung des Gesprächs On Tour und danke euch für das Gespräch!
„Die Vernakuläre Chance?“ ist die erste von drei Burgenland-Exkursionen, die in Kooperation mit DOCOMOMO Austria und dem ORF Burgenland geplant sind. Sobald die Termine für die Exkursionen feststehen, werden sie per Newsletter bekanntgegeben. Kuratierung: Johann Gallis, Albert Kirchengast und Elise Feiersinger.
Claudia Cavallar führt seit 2010 ein Büro in Wien. Ihre vielfältigen Arbeiten im In- und Ausland sind durch Ideenreichtum und Augenzwinkern gekennzeichnet. Als wichtige Basis dazu dient ihre profunde Recherche zu den Entwürfen von Josef Frank. Ab 1. Juni ist die von ihr gestaltete Ausstellung „Thonet“ im MAK wieder zu besuchen. Das Projekt in Weiden entstand in Zusammenarbeit mit Lukas Lederer.
Johann Gallis studiert Kunstgeschichte an der Universität Wien, Schwerpunkt Architektur der Nachkriegszeit.
Albert Kirchengast ist Architekturtheoretiker, wohnt im Burgenland und arbeitet am Kunsthistorischen Institut, Max-Planck-Institut, in Florenz.
Elise Feiersinger ist Vorstandsmitglied der ÖGFA.