Harald Frey - Anstöße zur Mobilitätswende
ÖGFA in der Zwischenzeit 02Ausgehend von der aktuellen Pandemiesituation gibt Harald Frey in Form eines Video-Interviews vorab einige Denkanstöße:
Für die Mobilitätswende im Raum Wien / NÖ bringen die Auswirkungen der Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen Risiken, aber auch neue Möglichkeiten. Zwar sehen sowohl die Stadt Wien als auch Niederösterreich in ihren Verkehrskonzepten weitreichende Veränderungen hin zur jetzt umso dringender notwendigen Mobilitätswende vor - den Ausbau der Fußgänger- und Radinfrastruktur, der Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs und den Ausbau des öffentlichen (Nah-) Verkehrs, um nur einige Beispiele zu nennen. Trotz dieser klar formulierten Ziele bestimmen aber überholte Denkmuster der autozentrierten Stadt und einige Großprojekte, deren Fragwürdigkeit durch die Pandemie noch offener sichtbar wird, die politischen Entscheidungsprozesse. Diese widersprüchliche Strategie sollte einer klaren Priorisierung des regionalen Umweltverbundes weichen.
Das Interview mit Harald Frey führte Andreas Vass:
Wir erleben gerade eine Art live-Experiment, was unsere Mobilität betrifft, der Flugverkehr und der internationale Bahnverkehr sind praktisch vollständig eingestellt, auch nationale Bahnlinien verkehren nur reduziert und werden wegen der Gefahr, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, gemieden. Sie waren ja noch knapp vor Eintreten der Reisebschränkungen und des Shutdowns beruflich in Ostasien. Wie erleben Sie persönlich die Situation?
Persönlich erlebe ich die Situation sehr ambivalent, da der Lock-Down ja nicht nur schnelle Verkehrsmittel und damit weite Wegstrecken betrifft, sondern auch unsere Nahmobilität, insbesondere, wenn sie mit sozialen Kontakten oder Zwischenmenschlichem verbunden ist. Vielleicht stellt sich insbesondere für manche Geschäftsreisen heraus, dass die virtuelle Mobilität in Form von Telekonferenzen ein möglicher Ersatz sein kann. Dies hängt alles davon ab, ob man die aktuelle Situation zu einer tiefgreifenden Ökologisierung des Wirtschaftssystems und damit auch des Verkehrssystems nutzen wird. Ich bin diesbezüglich sehr pessimistisch, zumal durch die Covid-19 Maßnahmen der öffentliche Verkehr massiv betroffen ist. Dass die Menschen mit einem veränderten Charakter aus der Krise kommen, darf angesichts der vergangenen Entwicklungen bezweifelt werden.
Im Rahmen des ÖGFA-Jahresschwerpunkts "Der Haushalt der Stadt" zur Frage ökologischer Stadtentwicklung planen wir zwei - vorerst verschobene - Veranstaltungen zur Mobilitätswende, in denen Sie zunächst mit Reinhard Seiß Weichenstellungen in der Rolle der Wiener Region als internationaler Verkehrsknoten und dann mit Katja Schechtner die Entwicklungen im Bereich der städtischen Verkehrsinfrastruktur diskutieren werden. Können Sie kurz umreißen, was man sich unter dieser Mobilitätswende vorstellen kann?
Eine Erreichung der Klimaschutzziele in Österreich hängt maßgeblich von der Sanierung des Verkehrssektors auf allen Ebenen ab. Die aktuellen Entwicklungen in dem Problembereich stehen der Zielerreichung der Klimastrategie in besonders hohem Ausmaß entgegen. Es zeigt sich eindeutig, dass bisherige Maßnahmen weder ausreichend waren noch überhaupt eine Trendwende im Verkehrsbereich einleiten konnten.
Die Einleitung eines Verhaltenswandels in der Alltagsmobilität, und damit die angestrebte Abkehr von angelernten Routinen, kann nicht nur auf die individuelle Ebene der Verkehrsteilnehmer beschränkt bleiben, sondern muss vielmehr auch die Abläufe und Prozesse über die Gestaltung von Verkehrsinfrastrukturen umfassen. Eine Mobilitätswende im Kopf kann immer nur als Ergebnis einer Änderung von Strukturen verstanden werden und erfolgen. Bauliche Strukturen, ähnlich wie monetäre oder rechtliche Rahmenbedingungen, sind das Resultat von Planungs- und (politischen) Entscheidungsprozessen.
Wenn wir zunächst bei der ersten Veranstaltung bleiben, den regionalen Projekten im Rahmen der transnationalen und globalen Netze und des Knotens Wien: Welche Projekte müssen wir da vor allem im Blick haben und inwieweit lassen sich jetzt schon Änderungen durch die Corona-Krise erwarten?
Ich denke hier vor allem an geplante Großprojekte wie den Lobautunnel oder die 3.Piste des Flughafens Wien, die bereits vor Covid-19 als ein Anschlag auf die ökologischen Ressourcen zu bezeichnen waren. Nun, angesichts von Rezession, hohen Staatsschulden, Massenarbeitslosigkeit und Zunahme sozialer Ungerechtigkeit, ist es noch wichtiger Investitionen in nachhaltige Strukturen umzulenken. Betriebs- und Unternehmensansiedelungen werden in der Zukunft vielmehr mit Breitbandinfrastruktur gelingen als mit Straßenbauprojekten.
Die dritte Piste am Flughafen Wien in Schwechat war eines der umstrittensten Verkehrsprojekte der letzten Jahre in Österreich. Jetzt fordern die Austrian Airlines vom Staat Finanzhilfen, nicht zuletzt mit dem Argument, dass bei einem Ausfall der AUA der Flughafenstandort unter Druck geraten würde. Haben sich die Argumente gegen dieses Großprojekt durch die gegenwärtige Krise verschoben?
Die Dimension des ökologischen Desasters dieses Projektes bleibt natürlich unverändert. Durch die aktuelle Krise wird zumindest die ökonomische Absurdität dieses Projektes nochmals deutlicher, aber auch die Verantwortung der Stadt Wien und des Landes Niederösterreich als Aktionäre des Flughafens gegenüber den Steuerzahlern. Ich gehe davon aus, dass man das Projekt nicht vollständig streichen wird, aber begründen lässt es sich aus der derzeitigen Situation noch weniger als vorher und die bereits vorher willkürlichen Prognosen für die Begründung der 3.Piste wirken jetzt noch kurioser.
China versucht das Projekt der "Neuen Seidenstraße" gerade in der sich abzeichnenden Rezession als wichtigen Impuls für die europäische Wirtschaft zu verkaufen. Sind Großprojekte, die eine weitere Zunahme des internationalen und globalen Waren- und Personenverkehrs im Blick haben, heute überhaupt noch zu rechtfertigen und welche Auswirkungen hätte das Breitspurprojekt in diesem Zusammenhang auf die Region Wien.
Die Corona Pandemie zeigt die inzwischen enormen Abhängigkeiten internationaler Warenströme auf. Aber auch, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, Produkte von überall auf der Welt beinahe ohne Transportkosten beziehen zu können. Dennoch haben sich die Leitindikatoren unseres Wirtschaftssystems durch Corona nicht verändert. Die Industrie steht in den Startlöchern, dort weiterzumachen wo sie vor Corona war, und die Staatsregierungen bieten bereits Milliarden als Starthilfe.
Verkehrssysteme sind niemals Endzweck, sondern immer nur Mittel zum Zweck. Dies gilt auch für die „Neue Seidenstraße“. Für Österreich bringt das Projekt weder volkswirtschaftliche Impulse, noch ist eine Trasse, die in der Nähe von Wien endet sinnvoll. Güterverkehrstechnisch macht am ehesten eine Verknüpfung mit großen internationalen Häfen im Westen oder Süden Europas Sinn. Und solange die Bahnstrecke nicht elektrifiziert ist, ist der Gütertransport am Schiff gemessen auf die Menge sogar energieeffizienter als die Schiene.
Wir beobachten derzeit ja weltweit vor allem in den Ballungsräumen eine Besserung der Luftqualität. Lässt sich diese direkt auf das Verkehrsaufkommen zurückführen und was ließe sich daraus für unsere Zielsetzungen in Hinblick auf eine Mobilitätswende ableiten?
Die Luftqualität in den Städten hat sich durch das stark reduzierte Kfz-Verkehrsaufkommen gerade bei den Stickoxidwerten deutlich verbessert. Mit dem schrittweisen Zurückkehren zur „Normalität“ ist jedoch auch wieder ein deutlicher Anstieg des Kfz-Verkehrsaufkommens zu beobachten und wir haben bereits jetzt wieder 60-80% der Vorher-Werte erreicht. Dazu kommt noch, dass einige Verkehrsteilnehmer aus Angst vom öffentlichen Verkehr auf das Auto umgestiegen sind. Es könnte also sogar bald zu einem höheren Anteil des Autoverkehrs kommen, sollte der öffentliche Verkehr mittelfristig gemieden werden.
Eine andere Beobachtung ist die massive Konzentration von Covid-19 Fällen in großen Ballungsräumen wie Wuhan, der Lombardei oder New York, inbesondere in solchen mit hoher Smog- und Feinstaubbelastung. Verschiedentlich wird auch generelle Kritik an den globalen Urbanisierungsformen und den hohen Bevölkerungskonzentrationen in Megacities laut. Gegenmodelle von diffusen Siedlungsentwicklungen stehen aber aus ökologischer Sicht gerade aufgrund des noch höheren Individualverkehrsaufkommens seit langem massiv in der Kritik. Was wären hier Antworten aus Sicht der Mobilitätswende - sollen wir uns auf andere Formen einer verkehrsvermeidender Verdichtung konzentrieren oder sollen wir alternative Systeme regionaler Vernetzung suchen, die Standorte außerhalb der Ballungsräume aufwerten?
Covid-19 sollte zumindest einen Aspekt bei der Stadtplanung verstärkt in den Fokus rücken: Das Anstreben qualitativer Dichte für unsere Städte, die die fußläufige Erreichbarkeit zusammenhängender größerer Grün- und Freiräume berücksichtigt und den Radverkehr für mittlere Distanzen in der Stadt neben dem öffentlichen Verkehr oberste Priorität im Straßenraum zuweist. Gleichzeitig zeigt sich, wie wichtig die Gestaltungsqualität des öffentlichen Raumes hinsichtlich seiner Aufenthaltsfunktion ist. Verkehrsvermeidung entsteht überall dort, wo ich meine grundlegenden Bedürfnisse in der Nähe befriedigen kann. Ganz nach dem Motto von Lucius Burkhardt, dass das Herz der Großstadt eine Kleinstadt ist, gilt es ein Mosaik zwischen Dichte und Grünraum nach menschlichem Maßstab für die Stadt der Zukunft zu entwickeln.
Harald Frey, seit 2006 Verkehrswissenschafter an der TU Wien. Leiter des Arbeitskreises „e-mobility“ und stellvertretender Leiter des Arbeitskreises „Nachhaltige Infrastruktur“ der Österreichischen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft (ÖVG). Forschungsschwerpunkte: Verkehrs- und Siedlungsplanung, Mobilitätsverhalten und Instrumente zur Verhaltensänderung.