Verleihung der Ehrendoktorwürde an Otto Kapfinger
Die ÖGFA gratuliert ganz herzlich Otto Kapfinger, dem am 14. Mai 2019 ein Ehrendoktorat der Technischen Universität Wien verliehen wurde.
Nott Caviezel
Laudatio zur Verleihung des Ehrendoktortitels an Otto Kapfinger
im Kuppelsaal der TU Wien, vorgetragen am 14. Mai 2019
Magnifizenz, sehr geehrte Frau Rektorin
Sehr geehrte Herren Vizerektoren
Lieber Otto Kapfinger und Familie
Sehr geehrte Gäste
„Personne n'est exempt de dire des fadaises. Le malheur est de les dire curieusement.“ Auf Deutsch: "Jedem kann es mal passieren, dass er Unsinn redet, schlimm wird es erst, wenn er es feierlich tut." Dies schrieb der französische Philosoph und Essayist Michel de Montaigne in seinen Essais. Ich will mir Mühe geben, denn heute ist ein feierlicher Tag. Zitate berühmter Philosophen zu nutzen, ist ein probates Mittel, denn – geschickt eingesetzt – vermögen sie die eigenen Gedanken zu untermauern und gewissermaßen zu adeln. Nicht selten werden Zitate aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, manchmal auch ungenau kolportiert oder gar verfälscht und gefälscht, was im Zeitalter der Fake-News mehr und mehr zum Kavaliersdelikt geworden ist. Zum Wort des Jahres 2016 wurde das Wort "postfaktisch" gekürt. Es beschreibt Aussagen, die nicht auf Tatsachen beruhen, Tatsachen werden abgestritten, von Tatsachen wird abgelenkt. Was zählt, ist die Emotionalisierung, Gefühle werden angesprochen und gerne Ängste geschürt. Man schert sich nicht um die Wahrheit. Mehr noch als Montaignes Zitat selbst, ist der Zusammenhang, in dem Montaigne vom feierlich geredeten Unsinn schreibt: Der Titel seines Essais im dritten, 1587 erschienenen Band, dem der zitierte Satz vorangestellt ist, lautet nämlich "De l’utile et de l’honnête", deutsch: "Was nützlich ist und was ehrlich". Dann folgen Überlegungen zur politischen Ethik, zur Wahrheit und Ehrlichkeit, die jedem Diskurs zugrunde liegen sollten. Der Wahrheit und belegbaren Fakten ist nicht nur die Politik verpflichtet; sie sind Voraussetzung jeder aufrichtig und glaubwürdig betriebenen Wissenschaft, deren Hort Universitäten sind. –– Dieser Vorspann möchte zu Otto Kapfinger überleiten, dessen Persönlichkeit ich in Montaignes Skala der Nützlichkeit und Ehrlichkeit weit oben positionieren will.
Wer promoviert, sollte mit seiner Dissertation die Wissenschaft in ihren Erkenntnissen ein Stück weiter bringen, einen Wissenszuwachs befördern und sich und seine Thesen zur Diskussion stellen. Der "dissertatio" folgt die "disputatio", es ist der Moment – heute das Rigorosum – da Thesen diskutiert und kritisiert werden, ein Kollegium den Kandidaten noch einmal auf den Zahn fühlt. Eine Dissertation belegt, dass der Verfasser im Stande ist, selbständig wissenschaftlich zu arbeiten. Mit einer Dissertation offenbaren sich der Dissertant und die Dissertantin und stellen sich der Öffentlichkeit. Derart schreitet Wissenschaft schließlich voran. Darum besteht in der Schweiz für Dissertationen Publikationspflicht, und ich finde das richtig so. Wer seine Dissertation nicht publiziert, darf den Doktortitel nicht führen. Während, wie ich mir sagen ließ, in den Naturwissenschaften für Dissertationen 30 bis 150 Seiten die Regel sind, findet man in den Geisteswissenschaften nicht selten 500 Seiten lange Doktorschriften. Ich weiss, es kommt nicht auf den Umfang, sondern auf den Inhalt an; schließlich zählt Einsteins 1905 in den Annalen der Physik veröffentlichte Zürcher Dissertation über "Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen" gerade mal 17 Seiten, allerdings 17 Seiten mit vielen Formeln, die die Welt veränderten. Die Universität Zürich hat Einstein beim ersten Anlauf die Dissertation auch wieder zurückgeschickt, mit dem Hinweis, sie sei zu kurz. Carl Seelig, dem ersten Biograf Einsteins zufolge, habe dieser dann noch einen einzigen Satz eingefügt, worauf sie dann stillschweigend angenommen worden sei.
Otto Kapfinger hat keine Dissertation verfasst, aber Tausende von Seiten geschrieben und veröffentlicht, die umfangmäßig gleich mehrere Dissertationen füllen und inhaltlich übers Ganze gesehen allen Anforderungen an eine publizierte Dissertation mehrfach genügen würden. Ich habe begonnen, in der Liste seiner Publikationen zu zählen und habe dann nach dem zweiten Hundert aufgehört und überschlagsmäßig gegen 700 Titel errechnet. Ein beeindruckendes Werk, das über ein paar Jahrzehnte gewachsen ist; darunter einige wichtige Bücher, auf die ich gleich zu sprechen komme, zahlreiche Buchbeiträge und noch zahlreichere Analysen, Kommentare und Kritiken in Fachzeitschriften und Tageszeitungen. Wichtiger als das Werk selbst ist aber seine Wirkung, die Otto Kapfinger selten verfehlt. Ein erstes Jahrzehnt, von 1970 bis 1980, war Otto Kapfinger, damals gerade mal 26 Jahre alt, zusammen mit Angela Hareiter und Adolf Krischanitz der dritte Akteur der Gruppe "Missing Link", die mit bewussten Grenzüberschreitungen, künstlerischen Installationen, grafischen Experimenten, Aktionen, Performances und experimentellen Filmen die Reichweite und den Horizont der Architektur ausdehnte und die Szene tüchtig aufmischte. Aus jenen Jahren stammen denn auch die ersten Veröffentlichungen, seine allererste – ich halte sie hier in der Hand – ist ein höchst origineller, zusammen mit Adolf Krischanitz und Angela Hareiter erarbeiteter "Arbeitsbericht Missing Link 1970-1972", noch im analogen Zeitalter mit etwa 300 kleinen Handzeichnungen von Otto Kapfinger. Und so hat denn alles seinen Lauf genommen.
Zu dritt haben wir im Antrag an den Fakultätsrat, Otto Kapfinger ein Ehrendoktorat zu verleihen, vom Architekturforscher und -publizisten gesprochen. Forschen und publizieren – das hat Otto Kapfinger nun fast ein halbes Jahrhundert getan und tut es zum Glück immer noch, unermüdlich und in aller Souveränität, das heisst selbstbestimmt und autonom. Kapfingers Stimme ist seit langem eine verlässliche. Seine akribisch betriebenen Forschung, sein unerschöpfliches Wissen über Architektur, deren Geschichte und Theorie durchdringen jeden seiner Texte. Intelligenz und Sprachgewalt, Präzision, Poesie und Ironie zeichnen seine Verlautbarungen aus. Derart gelingt ihm die Vermittlung anspruchsvoller Inhalte auf einem sehr hohen Niveau. Dies schaffen nur wenige.
Worüber hat Otto Kapfinger denn geforscht und publiziert? Ich kann hier angesichts der entmutigend langen Liste der Veröffentlichungen nur wenige Themen streifen, zu denen er maßgeblich Neues zu Tage gefördert hat und dabei nicht selten über die Landesgrenzen hinaus die Aufmerksamkeit der Fachleute und eines interessierten Publikums erregt hat: Im Zentrum seines Interesses liegen das 19. und 20. Jahrhundert, die Vormoderne, die Moderne, die Nachkriegsmoderne und die Gegenwart, speziell etwa die Wiener Secession, das Haus Wittgenstein und die Werkbundsiedlung, personelle Verflechtungen vor und beim Bauen, technische Fragen zur Bauweise oder der Städtebau, genauer der Umgang mit der Stadt, und natürlich die prägenden Architekten und ihr Werk, Otto Wagner, Josef Hoffmann, Adolf Loos, Josef Frank und die folgenden Generationen, deren Namen so zahlreich sind, dass ich keine Aufzählung wage. Letztlich sind seine Forschungen und ihre vermittelnde Verwertung unerlässliche Ingredienzen, die das nährt, was wir Baukultur nennen. Allen, die sich einen handlichen, spannenden und lehrreichen Einblick in Otto Kapfingers Texte gönnen möchten, sei der 2014 bei Park Books erschienene Sammelband mit dem Titel "Architektur im Sprachraum, Essays, Reden, Kritiken zum Planen und Bauen in Österreich" wärmstens empfohlen.
Damit ist es gesagt: Wir würden Otto Kapfinger nicht gerecht werden, würden wir sein Wirken allein auf das Publizieren reduzieren. Otto Kapfinger ist ein gefragter Vortragender, der mit seinen Referaten das Publikum stets zu fesseln weiss und er war und ist ein scharfer Kritiker, der es auch in der Kurzform des gerade aktuellen Kommentars zu Höchstleistungen bringt. Offensichtlich besitzt er eine besondere Begabung dafür. Nicht von ungefähr war er von 1981 bis 1991 Architekturkritiker für "Die Presse". Doch Begabung allein macht noch keinen schreibenden Kritiker. Feldarbeit, Gespräche, Erkundungen und viel Erfahrung gehören dazu – ein besonderes Sensorium, aus der Erfahrung heraus mit vielleicht auch etwas prophetischem Blick die Spreu vom Weizen zu trennen. Ältere Texte auf ihre Gültigkeit lesend bestätigt sich jedenfalls auch diese Fähigkeit. Und glauben Sie nicht, dass sein Interesse ausschließlich Wien galt und gilt; es gibt kein Bundesland, dessen Architektur ihm fremd wäre, dafür sind die in der Fortsetzung von Friedrich Achleitners Architekturführer erschienenen Bände zu fünf Bundesländern, als Führer zu ausgewählten Bauten seit 1980 konzipiert und teilweise zusammen mit Co-Autoren erarbeitet, ein beredtes Zeugnis. Allein oder gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen, oft mit Adolph Stiller, hat Otto Kapfinger zahlreiche Ausstellungen kuratiert, für Österreich und über die Grenzen hinaus wichtig die Ausstellung "Architektur im 20. Jahrhundert – Österreich" im Deutschen Architekturmuseum (1993/94) oder die Wanderausstellung "Une provocation constructive – architecture contemporaine au Vorarlberg" (2003); mit den Titeln "Konstruktive Provokation" und "Constructive Provokation" auch in Deutsch und Englisch erschienen. Die jüngste, im letzten Sommer gezeigte Ausstellung im Wiener Ringturm, gemeinsam mit Adolph Stiller kuratiert, trug den Titel "Fundamente der Demokratie. Architektur in Österreich – Neu gesehen"; gleichzeitig ist mit dem selben Titel auch der Katalog erschienen.
Otto Kapfingers Rolle als Forscher und Vermittler wäre hier ebenso unzureichend gewürdigt, würde ich unerwähnt lassen, dass er 1979 Mitbegründer der wichtigen Zeitschrift "UmBau" gewesen ist. Dass sein untrügerisches Urteil in Sachen Architektur geschätzt wird, belegt sein zahlreiches Mitwirken in unterschiedlichsten Jurys für wichtige Preise. Er selbst ist auch Preisträger, doch davon später.
Was ich hier vortrage, ist eine Laudatio. Deshalb dürfen Sie nicht erstaunt sein, wenn ich hier eine einzige Lobesrede halte. Dies tue ich im Wissen, dass Otto Kapfinger alles Andere ist als ein eiliger Macher. Ebenso wenig schätze ich ihn aber als Zauderer ein. Er wäre aber kein Wissenschaftler und ein schlechter Berater, wäre ihm nicht der Zweifel, ob er mit seinem Tun richtig liegt, hin und wieder ein Begleiter. Zweifel gehört zur Selbstvergewisserung und mag uns stärken, wenn wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
Ich habe große Hochachtung vor Otto Kapfinger, der mit seinem schier uferlosen Wirken gar manche zünftige Akademiker in den Schatten stellt. Meinen Respekt und meine Wertschätzung gilt ihm auch als Mensch und Persönlichkeit, die aufrecht geht, nicht korrumpierbar ist und unerschrocken zu seiner Meinung steht und auch danach handelt. Otto Kapfinger laviert nicht, redet nicht um den Brei herum, sondern Klartext. Dies auszuhalten, hilft ihm seine Begeisterung und sein Feuer für die Sache. Eine Prise Sendungsbewusstsein muss in jedem Kritiker stecken, aus Betroffenheit und aus dem sprichwörtlichen Verantwortungsbewusstsein heraus, dass wir schließlich alle aufgerufen sind, im engeren und im weiteren Umfeld kritische Citoyens zu sein, als Teil der Gesellschaft, in der das vitale Engagement der Bürgerschaft gefragt und vonnöten ist. Lieber Otto, du bist ein Citoyen.
2015 wurde dir, Maria Auböck und Marta Schreieck das "Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien" verliehen. Du und die beiden Architektinnen haben diese Ehrung weiss Gott verdient, ausdrücklich, weil das kritische, fachliche Engagement im allgemeinen geschätzt wird, das aktive und konstruktive Korrektiv aus der Fach- und Bürgerschaft einbezogen sein will. Am 18. Januar 2017 hast du in einem offenen Brief an Bürgermeister Häupl und Vizebürgermeisterin Vassilakou mitgeteilt, dass du ihnen in separater und eingeschriebener Paketsendung das Ehrenzeichen zurückgibst. Ich zitiere den Schluss des Briefes: "Es erscheint mir absurd und untragbar, für mein einschlägiges, freiberufliches Engagement ein Ehrenzeichen zu tragen - von einer Stadtregierung, die konträr zu den Inhalten und Anliegen meiner Initiativen handelt. - Mit herzlichen Grüßen und allerbesten Wünschen!" ––– Das ist konsequentes Handeln und der aufrechte Gang, die ich vorhin erwähnte. – Du bist kein Diplomat, aber ein wichtiger Botschafter der österreichischen Architektur.
Als im Jahr 2002 der 2012 verstorbene Doyen der deutschen Architekturkritik und -publizistik Ulrich Conrads aus Anlass seines 80. Geburtstags mit einem Symposium geehrt wurde, bedankte er sich mit einer eindrücklichen Rede, die ich 2003 überarbeiten durfte und unter dem Titel "Sieben Tugenden, Einsichten zur Architekturkritik" in der Zeitschrift "werk, bauen+wohnen" veröffentlichte – nach wie vor ein sehr lesenswerter Text. In seinem Vorspann ist folgendes zu lesen: "Über ungefähre Eindrücke, über bloße Vermutungen ist schlecht reden. Vom Hörensagen lässt sich Architektur nicht betrachten. Alle werden eines Tages die Erfahrung machen, dass mit der Zunahme von Wissen – oder sagen wir ruhig Halbwissen – die Zweifel umgekehrt proportional zunehmen, ob sich Architektur, wo Architektur ist, sprich Baukunst überhaupt zur Sprache bringen lässt."
Als ehemaliger Chefredakteur von werk, bauen+wohnen, habe ich zehn Jahre damit gehadert und es trotzdem versucht. Du lebst uns diese Herausforderung vor. Wie schön schließt sich hier der Kreis, wenn ich den wunderbaren Titel des Buchs mit deinen gesammelten Texten hier nochmals erwähne: "Architektur im Sprachraum" – das ist eine deiner Stärken.
Zu guter Letzt, gratuliere ich dir zur heutigen Ehrung von Herzen. Und: Bitte, gib sie nicht wieder zurück ... ich würde etwas blöde da stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.