Bernhard Denkinger - Die vergessenen Alternativen
ÖGFA in der Zwischenzeit 03„Eine Sache der Assoziation, nicht mathematischer Ähnlichkeit“
Architekt Bernhard Denkinger hat ein Buch über Strukturalismus und brutalistische Erfahrung geschrieben, das im Jovis Verlag erschienen ist. Gabriele Kaiser/ÖGFA stellte – zur Einstimmung und Vorbereitung auf die in den Herbst verschobene Veranstaltung „Easy Reader 07“ – einige Fragen zu den „vergessenen Alternativen“ der europäischen Nachkriegsmoderne. Am 9. Oktober 2020 gibt es dann im Buchsalon der ÖGFA die Gelegenheit, das Gespräch mit dem Autor im erweiterten Kreis fortzusetzen.
Dein Buch „Die vergessenen Alternativen. Strukturalismus und brutalistische Erfahrung“ ist außerhalb des akademischen Betriebs aus eigenem Antrieb entstanden. Was hat Dich veranlasst, dieses Thema in Angriff zu nehmen?
Ich stieß auf den Brutalismus über eine Aufsatzsammlung, die Max Risselada 2011 herausgegeben hatte. In dieser Publikation wurden die Arbeiten des britischen Architektenehepaars Alison und Peter Smithson präsentiert. Das war Ende 2014, zu diesem Zeitpunkt war die brutalistische Architektur nur einem Fachpublikum bekannt. Die Smithsons schufen eine unspektakuläre Architektur, die nicht von formalen Überlegungen ausging. Das neue allgemeine Interesse am Brutalismus, das dann um 2016 einsetzte, konzentrierte sich auf die formalen Qualitäten brutalistischer Gebäude, die in Sammelbänden als visuell beeindruckende Unikate präsentiert wurden.
Im Rahmen der Wiederentdeckung des Brutalismus wurden auch Beurteilungen abgegeben, die aus meiner Sicht so nicht stimmten. So wurde beispielsweise die architektonische Haltung Aldo van Eycks sehr weitgehend mit jener der Smithsons gleichgesetzt. Van Eycks Schmela-Haus in Düsseldorf hatte ich während berufsbedingter Aufenthalte in Nordrheinwestfalen mehrfach besucht. Ich war jedes Mal von neuem von diesem Gebäude beeindruckt gewesen.
Aus meiner Sicht vertraten die Smithsons andere Positionen als van Eyck. Sie waren zwar über Team Ten mit Aldo van Eyck verbunden, entwickelten sich aber später zu dessen Gegenspielern. Van Eyck gilt als Pionier der strukturalistischen Architektur, was prinzipiell stimmt. Es lässt sich bei ihm aber keine direkte Rezeption zeitgenössischer strukturalistischer Autoren nachweisen. Er bezog seine Informationen aus der angelsächsischen Anthropologie. Dabei kam er zu ähnlichen Schussfolgerungen wie beispielsweise Claude Lévy-Strauss.
In Publikationen zur strukturalistischen und zur brutalistischen Architektur wurden die unterschiedlichen Ansätze der beiden Strömungen vermischt, strukturalistische Gebäude wurden als brutalistisch ausgegeben oder brutalistische dem Strukturalismus zugerechnet.
Ich schrieb dann das Buch, um herauszufinden, wer für was stand. Das konnte nur in exemplarischer und skizzenhafter Form geschehen. Es war mir wichtig, dass inhaltliche Aussagen durch Pläne und eine ausreichend große Zahl von Bildern belegt werden konnten. Das Buch enthält Bilder, die noch nie oder nur sehr selten in deutschsprachigen Publikationen gezeigt worden sind.
Bei dieser von Dir konstatierten „Vermischung“ zweier Strömungen der 1950er/60er-Jahre möchte ich nachhaken. Kannst Du die Merkmale und Unterschiede zwischen der brutalistischen und strukturalistischen Architektur kurz erläutern? Und inwiefern sind es „vergessene Alternativen“?
Ich denke, dass sich die Unterschiede auf die unterschiedlichen Positionen zurückführen lassen, die das Individuum in der gedanklichen Konstruktion der beiden Strömungen jeweils einnahm. Das brutalistische Individuum war auf die Erweiterung individueller Erfahrung hin ausgerichtet, es unterschied sich nur wenig vom klassischen modernen Subjekt. Das strukturalistische Individuum hingegen versuchte die Welt multiperspektivisch wahrzunehmen.
Die strukturalistische Architektur stellte grundsätzliche Annahmen der modernen Architektur in Frage. Räume sollten nicht mehr für verschiedene Aufgaben spezifiziert werden. Ein Gebäude sollte als ein System von Relationen wahrgenommen werden. Da dieses System nicht hierarchisch aufgebaut sein sollte, konnte es auch nicht von einem zentralen Standpunkt aus erfasst werden. Die Architektur verwendete Basiseinheiten, die zu Serien oder Feldern verbunden und fallweise modifiziert wurden. Das konnte eine Zelle oder ein Konstruktionsteil sein, die von außen identifizierbar waren, oder auch ein räumlich-konstruktives Element, das einen sehr großen Innenraum strukturierte, wie die virtuellen Bäume, die Frank van Klingeren für das Einkaufs- und Schulzentrum t’ Karregat entwarf.
Die wenigen Bauten, die der New Brutalism hervorbrachte, unterschieden sich wesentlich von dem, was später als brutalistische Architektur bekannt wurde. Dennoch lassen sich Konstanten erkennen. Da ist zum einen eine gewisse Lockerheit und Unbekümmertheit, was die Ausformulierung der Grundrisse und Fassaden anbelangt, Reyner Banham hat sie als „je m’en foutisme“ beschrieben, dann eine Betonung des Physisch-Materiellen, ein besonderes Interesse für die Qualitäten und Oberflächen unverarbeiteter und roher Materialien. Bei den Smithsons war dies von eher philosophischer Natur, die brutalistischen Architekten, die ihnen nachfolgten, verwendeten roh aussehende Materialien, um ihren Bauten einen besonderen Ausdruck zu verleihen. Ein wesentlicher Aspekt am Brutalismus ist, dass er mit Bildern arbeitete. Idealerweise hätten diese nicht auf bereits bekannte, historische Vorbilder verweisen dürfen. Das gelang nicht immer, was besonders populäre brutalistische Gebäude, wie etwa der Trellic Tower von Ernö Goldfinger in London oder die Wallfahrtskirche in Neviges von Gottfried Böhm belegen.
Bei der strukturalistischen Architektur hingegen sollte nur ein einziges Bild vermittelt werden: Umriss und Kubatur eines Bauwerks sollten kommunizieren, dass das Gebäude als Ganzes ein regelhaftes System bildete.
Alternativen waren die beiden Architekturströmungen, weil sie mit Dogmen der klassischen modernen Architektur brachen, deren Errungenschaften jedoch nicht pauschal ablehnten. Sie formulierten neue theoretische Modelle, die über einen beschränkten Zeitraum hinweg sehr breit rezipiert wurden. Wesentliche Anliegen wurden nicht ausformuliert, Konsequenzen, die sich aus theoretischen Annahmen ergaben, nicht weiterverfolgt.
Die strukturalistische Architektur bezog sich stark auf die zeitgenössische Philosophie, beim New Brutalism gab es kaum theoretische Referenzen. Dafür scheint das Konzept des „as found“ (also die Akzeptanz des Vorgefundenen) eine größere Nachwirkung gehabt zu haben. Was sind aus Deiner Sicht die Gründe dafür?
Die Smithsons vertraten die Auffassung, dass das Alltägliche und Normale Inspirationsquelle und Gegenstand architektonischer Gestaltung sein sollte. Bisher nicht erkannte Qualitäten der Dinge und Materialen des urbanen Umfelds sollten visuell freigelegt und in einen Entwurf eingebunden werden. Dazu gehörte auch die Auffassung, dass einfache Dinge und rohe Materialen „wahr“ seien. Gestaltung wurde als ein Prozess verstanden, durch den das Potential des Vorhandenen aktiviert werden sollte. Die aufgefundenen Dinge („as found“) schlugen – gleichsam von sich aus – bestimmte Verwendungsmöglichkeiten vor; die Planer verglichen, wählten aus und kombinierten. Das war eine sparsame und nachhaltige Methode. Sie beeinflusste später Architekturströmungen, die sich dem Realen/Alltäglichen zuwandten.
Du gibst nicht nur einen kritischen historischen Überblick über die beiden architektonischen Strömungen, sondern gehst auch analytisch konkret auf einzelne Bauwerke auch weniger populärer Architekten ein, etwa von Onno Greiner, Frank van Klingeren oder Joop van Stigt. Wie kam diese Auswahl zustande?
Die drei von Dir genannten Architekten stehen für jeweils unterschiedliche Haltungen innerhalb des Strukturalismus. Onno Greiners Bauten entsprachen am direktesten einer allgemeinen Vorstellung, die man auch heute noch von strukturalistischen Gebäuden hat. Sie basierten auf identen Modulen, fügten sich gut in eine historische Umgebung ein. Bei seinem Landschulheim in Arnemuiden schuf er jedoch den Sonderfall einer „sprechenden“ strukturalistischen Architektur, die mit symbolischen Verweisen arbeitete. Joop van Stigt vertrat eine abstrakt-ideologische Form des Strukturalismus. Er versuchte auch bei kleinen Projekten ein architektonisches „Feld“, einen virtuellen Bezugsraum, aufzubauen. Das Feld enthielt Basiselemente und mögliche Kombinationen. Ein Gebäude realisierte einen Ausschnitt dieses Felds und verwies auf dieses. Frank van Klingeren realisierte mit dem Zentrum t‘ Karregat ein Projekt, das auch technologisch innovativ war. Der Aspekt der Veränderbarkeit spielte hier eine wesentliche Rolle.
In der Architektur ist der Begriff des Strukturalismus eng mit dem Namen Herman Hertzberger verbunden. Du hast für Dein Buch ein langes Interview mit Hertzberger geführt. Wie hat er sich über die Verbindung zwischen strukturalistischer Philosophie und Architektur geäußert?
Hertzberger hat im Zusammenhang mit seinem Bürogebäude Centraal Beheer mehrmals auf De Saussures Konzept von Langue und Parole verwiesen. Damit legte er nahe, dass es bei seinen Projekten einen Konnex zur strukturalistischen Linguistik gebe. Die strukturalistische Philosophie verlor ab Mitte der 1970er-Jahre an Bedeutung und wurde rasch von anderen philosophischen Modellen abgelöst. Hertzberger und andere Architekten planten aber bis in die 1980er-Jahre „strukturalistische“ Gebäude. Mich interessierte, ob es nach dem Verschwinden der strukturalistischen Philosophie noch eine strukturalistische Architektur geben konnte. Bestand eine enge Verbindung zwischen beiden, dann wäre – methodisch gesehen – die Architektur ohne Philosophie nicht mehr möglich gewesen. Hertzberger meinte, es gebe nur eine strukturalistische Methode, die universell verwendet werden könnte. Diese sei nicht an eine bestimmte Zeit oder an eine aktuelle philosophische Strömung gebunden. Er meinte Ideen aus der Philosophie könnten in Architektur übertragen werden, sie kämen dort aber nur in „verzerrter“ Form an. Interessant war für mich seine Auffassung, dass die Anwendung philosophischer Thesen in der Architektur „eine Sache der Assoziation, nicht mathematischer Ähnlichkeit“ (Zitat HH) sei.
Mich interessierte auch, wie Hertzberger seine linguistischen und philosophischen Kenntnisse erworben hatte. Er erinnerte sich an einen Artikel von George Baird, der von großer Bedeutung für ihn gewesen sei. Er habe den Artikel gelesen und sich gedacht: das ist das, was ich mit meiner Architektur anstrebe.
In seinen Schriften und in seiner Architektur verband Hertzberger strukturalistische Themen mit Protest und Partizipation, zwei Aspekten, die mit Strukturalismus im engeren Sinne wenig zu tun haben. Ich denke, dass Hertzberger so populär wurde, weil er damit ein niederschwelliges Identifikationsmuster schuf. Philosophie war Teil einer Protestkultur, philosophische Ideen konnten aufgegriffen, frei interpretiert und an die eigenen Vorhaben angepasst werden.
Kannst Du in der zeitgenössischen Architektur Nachwirkungen brutalistischer und strukturalistischer Themen erkennen?
Nach der Postmoderne gab es immer wieder Gebäude, die von strukturalistischen Ideen inspiriert waren. Die Idee, dass ein Gebäude – wie eine kleine Stadt – von verschiedenen Seiten erschlossen und Teil des öffentlichen Wegenetzes sein könne, tauchte bei Projekten von Bjarke Ingels oder von Riegler Riewe auf. Die Auffassung, dass nicht-hierarchisch aufgebaute Gebäude Ausdruck einer demokratischen Kultur seien, spiegelt sich in Projekten wie der Philharmonie von Barozzi Veiga in Szczecin. Nach außen tritt diese wie eine Häuserzeile auf, erst über ihre besondere Materialität wird erkennbar, dass es sich hier um eine wichtige kulturelle Institution der Stadt Szczecin handelt. Auch zwischen der minimalistischen und der strukturalistischen Architektur gab es Korrespondenzen. Beide lehnten das Bildhafte und Symbolische ab, beide verwendeten ähnliche formale Verfahren.
Auf Konzepte des New Brutalism referieren in ihren Arbeiten so unterschiedliche Architekturbüos wie Caruso St. John, Sergison Bates oder David Adjaye. Die Materialität vieler zeitgenössischer Bauten ist der Wiederentdeckung der brutalistischen Architektur geschuldet. Ich denke hier beispielsweise an Grafton, vielleicht auch an Marte.Marte. Die brutalistische Materialästhetik wirkt auch auf einer sehr allgemeinen Ebene nach: Bei zeitgenössischen Bauten wird sehr häufig Sichtbeton und Cortenstahl verwendet. Die ursprünglichen Anliegen werden hierbei häufig entschärft: Der Beton ist glatt, der Stahl sieht so aus, als würde er sich zersetzen, ist aber so behandelt, dass er nur oberflächlich rostet. Das mag in einem historischen Kontext Sinn machen, nicht jedoch als Fassadenverkleidung eines Parkhauses.
Ich glaube auch, dass es wieder ein verstärktes Bedürfnis nach programmatischen Ansätzen in der Architektur geben wird. Damit könnten die konzeptionellen Ansätze der beiden Alternativen, ihre Versuche die Grundsätze einer „anderen“ modernen Architektur zu formulieren, wieder relevant werden.
Das ist eine hoffnungsvolle These, über die wir uns unbedingt im erweiterten Kreis am 9. Oktober 2020 in der ÖGFA unterhalten sollten! Wir freuen uns darauf …
Bernhard Denkinger, Architekt und Ausstellungsgestalter, lebt in Wien. Studierte Architektur an der Technischen Universität München und an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Schwerpunkte: Museums- und Ausstellungsgestaltung mit kulturhistorischen und zeitgeschichtlichen Themensetzungen, Gedenkkultur, Architekturtheorie und -geschichte.
Bernhard Denkinger
Die vergessenen Alternativen
Strukturalismus und brutalistische Erfahrung in der Architektur
Jovis Verlag, Berlin 2019