ÖGFA Lecture #10 Schindler: Bestand | Übergang
Flora Ruchat Roncati im Dialog mit Sandra Giraudi
VortragWie bereits im letzten Programm angekündigt, ist die 10. Ausgabe der etablierten Reihe Schindler Lecture Anlass für ein Jubiläum, das zugleich Experiment und Summe der fünfjährigen erfolgreichen Zusammenarbeit der ÖGFA mit dem Unternehmen Schindler sein soll: Das Experiment eines Dialogs zwischen den Generationen, zwischen wechselnden Ansätzen einer Haltung, die Modernität nicht als formale Kennung und Geste sondern als Form der Bewusstheit versteht. Ein Dialog, in dem Moderne als geistiges Erbe erscheint: rückhaltlos offen für das im Bestand zu lesende Neue, beständig auf Linie in der Suche nach Spuren des Übergangs. Mit der Carte Blanche für Flora Ruchat Roncati wählt sich die Doyenne der Schweizer Architektur als Gesprächspartnerin eine Architektin der jüngeren Generation: Sandra Giraudi, die ebenfalls zwischen Zürich und dem Tessin beheimatete Architektin und Partnerin von Giraudi-Wettstein Architekten, lotet an diesem Jubiläumsabend im Dialog mit Flora Ruchat Roncati die Möglichkeiten und inneren Widersprüche einer als Tradition verstandenen Moderne aus.
Konsequent modern: Flora Ruchat Roncati
Flora Ruchat legt in ihrem mehr als 50-jährigen Werk Bestände und Übergänge einer konsequent modernen Haltung offen, einer Haltung der Humanität, an deren Basis die Regeln des Bestehenden – bis hin zum Fragment, zum Zufall – wirken und die genährt wird von dem Bewusstsein der Veränderlichkeit: möglicher und vorfallender Übergänge, die aus eben diesen Regeln lesbar und realisierbar werden. Die Prägung durch die Lektionen Le Corbusiers (des Kontextuellen!), die Spuren des italienischen Razionalismo, die Erneuerung einer Moderne, die im Gegenwind von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder um ihre humanen Grundlagen kämpft, die durch Flora Ruchat von Anfang an wesentlich mitgestalteten Prinzipien der Tessiner Architektur der Tendenza: diese Koordinaten bilden das tragfähige Gerüst einer Praxis, die Neugier, Selbstbewusstsein und Bescheidenheit auszeichnet. Aber nicht nur ihres Werks wegen, auch im Blick auf ihr Wirken, auf ihr interdisziplinäres Kooperieren in zahlreichen, wechselnden Arbeitsgruppen ebenso, wie ihre jahrzehntelange Lehrtätigkeit, insbesondere als erste ordentliche Professorin überhaupt an der Architekturfakultät der ETH Zürich, 1985-2003, ist Flora Ruchat Roncati prädestiniert, die Schindler Lecture #10 zu einem Ereignis der besonderen Art werden zu lassen.
Ein Dialog zwischen den Generationen – ein Dialog zwischen Architektinnen: Als eine der ersten Frauen, die sich in der Schweiz in diesem von Männern dominierten Beruf behaupten konnte, hatte und hat Flora Ruchat seit den 1970er-Jahren auch in diesem Sinn eine starke Vorbildwirkung auf angehende Architektinnen, die ihrerseits seit langem eine unverwechselbare Präsenz in der Schweizer Architekturszene erlangt haben: Zu nennen wären unter anderen Marianne Burkhalter, Inés Lamunière, Marie-Claude Bétrix, oder - etwas zeitverschoben - Annette Gigon, Astrid Staufer, Annette Spiro oder Gabrielle Hächler.
Geistiges Erbe Moderne: Sandra Giraudi
Sandra Giraudi, in ihrer Bürogemeinschaft mit Felix Wettstein eine der erfolgreichsten Vertreterinnen ihrer Generation, ist mit Flora Ruchat Roncati zunächst als Diplomandin an der ETH Zürich 1989 und in den anschließenden Jahren als Assistentin an ihrem Entwurfslehrstuhl verbunden. Neben der Lehrtätigkeit , die sie in jüngster Zeit als Gastprofessorin an die Accademia di Architettura in Mendrisio führte, bilden wichtige Auslandserfahrungen an der Rhode Island School und bei Cruz-Ortiz in Sevilla, publizistische Tätigkeiten und die Mitwirkung in Gestaltungsbeiräten die Bausteine, aus denen sich in den letzten 15 Jahren das Profil einer umfassenden beruflichen Praxis aufgebaut hat. Einflüsse eines anpassungsfähigen, kontextbezogenen, bewusst pragmatischen aber auch sinnlichen Umgangs mit der rationalen räumlichen Logik der Moderne verbinden Giraudi-Wettstein mit der iberischen Architektur: Einprägsame Bildhaftigkeit, wie sie nicht nur das in Zusammenarbeit mit Cruz-Ortiz entstandene Projekt für den Basler Hauptbahnhof zeigt, findet Einsatz im Dienst emotionaler Aneignung. Je nach Aufgabenstellung und Ort gezielt gewählte architektonische Vokabulare und Syntaxen erinnern andererseits als Verfahren an Rafael Moneos eklektische Aufarbeitung der Architekturgeschichte insbesondere der Moderne, im Interesse einer jeweils aus dem Projekt heraus neu zu begründenden Verständlichkeit. Verbindend und auf undogmatische Weise verbindlich bleibt die in der Moderne wurzelnde Tendenz zur Betonung des Raums, räumlicher Beziehungen und lokaler Kontinuität, während die Suche nach dem Erfassen von Atmosphäre, Stimmung und Emotion - nach dem „Sinn, der bleibt nach dem Gebrauch“- an aktuelle Themen einer Suche nach Unverbrüchlichkeit inmitten der Widersprüche und Unsicherheiten gegenwärtiger gesellschaftlicher Perspektiven anschließt.
Zum 10. Jubiläum der Schindler Lecture stellen wir mit Flora Ruchat und Sandra Giraudi biografisch und dialogisch die Frage nach der Moderne als geistigem Erbe; nach den Möglichkeiten, Traditionen und Kontinuitäten moderner Denkweisen auszumachen; nach Verwerfungen und Wiederanknüpfungen; nach den in Werken und Methoden wirkenden Beständen und Übergängen. Als Auftaktveranstaltung des tags darauf im Rahmen des Schwerpunktthemas stattfindenden Symposiums Bestand der Moderne ist der Abend außerdem Erinnerung an den Umstand, dass mit dem Erhalt, der Restaurierung, der Aufrüstung, Umnutzung und Anpassung der materiellen Zeugen der Moderne und Nachkriegsmoderne noch nicht viel mehr getan ist, als erfrischende Arbeitsbeschaffung für eine Branche in der Krise und die Umsetzung oftmals fragwürdiger ökonomischer und ökologischer Notprogramme, wenn wir den geistigen Gehalt dieser Architektur nicht mehr verstehen und vertreten.
Nicht zuletzt wollen wir mit diesem Programm aber auch der Schindler Aufzüge und Fahrtreppen GmbH für die stets ausgezeichnete Zusammenarbeit danken, welche die Schindler Lectures erst möglich macht.
Flora Ruchat Roncati
Zwischen Tessin/Rom/Zürich
Zwischen lesen/zeichnen/kochen
Zwischen Baustelle/Kinder/Arbeitstisch
Zwischen Pult/Bett/Sand
Zwischen Mozart/Rossini/Satie
Zwischen entwerfen und machen
Zwischen lieben und putzen
Zwischen lachen und weinen
Immer noch
Stehe ich auf den Beinen
Vielleicht
1937 in Mendrisio geboren (TI-CH), 1961 Architekturdiplom ETH Zürich, 1961-1975 Büroinhaberin in Lugano mit A.Galfetti und I.Trümpy; 1975-1985 Rom/Beratende Architektin im „Consorzio Nazionale Cooperative d’Abitazione”; eigenes Büro; 1985-2003 Ordentliche Professur für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich; 1987-1998 Büroinhaberin SAR; seit 1998 Mitinhaberin Büro SAM+Ruchat Roncati/Inhaberin Büro FRR a Riva San Vitale (TI); Lehr- und Vortragstätigkeit an zahlreichen europäischen und amerikanischen Hochschulen, Publikationen und Forschungen zu monografischen und genderspezifischen Themen.
Realisierte Projekte (Auswahl):
1962-75: Schulzentren in Chiasso, Riva S.Vitale, Lugano,Viganello (mit Galfetti und Trümpy);
1970-72: Schwimmbad Bellinzona; 1978-82: Wohnüberbauung La ColaSiderTa, Taranto; 1990-96: Suglio - Verwaltungs- und Ausbildungszentrum UBS (SAR), Manno (TI); 1987-2001: Gestaltungsplan für den Dorfkern von Riva SanVitale (TI); 1993-2005: ETH Lausanne, Quartier Nord; 1987-2002: La Transjurane A12: Architektonische Gestaltung der Autobahn (mit R.Salvi); seit 1992: SBB Alptransit Gotthard - Begleitung der Landschafts- und Bauwerksgestaltung der Hochgeschwindigkeitsbahn (BeratungsGruppe für Gestaltung); 2004-06: Konsulentin der Comune di Roma „Interventi di Qualità“; 2001-04: Seilbahnstation Lussari (con Carlo Toson), Tarvisio (I); 2002-03: Hauser Wohnungsbau, Riva S. Vitale (Ti); seit 2007: Studentenheim / Convento delle Grazie (con Carlo Toson) Udine (I); 2008: Casa unifamiliare, Riva S.Vitale (TI); 2008-09: Einfamilienhaus, Besano (I)
Jüngste Wettbewerbe:
1999 Mont Blanc: Zufahrt zum Mont-Blanc Tunnel Entrèves-Palu (I)
2001-2002 Lagerstrasse Zürich “ BOA” 600 Wohnungen Zürich
2005 Metropol Banca /Studienauftrag/ SAM+FRR Zürich
2005 Straßenbrücke Olten “SOMI” ing. Spataro Olten
2006 “Il passante di Mestre”: snodi Autostrada e Paesaggio /sel. Venezia-Mestre
2007 “Il – è +” Colle GENSOLE : Scuola e Paesaggio/sel. Roma
2008 Alterswohnungen Seefeldstrasse Zurigo
2008 Gestaltungsplan Pian Scairolo/sel. Lugano
Weitere Lehrtätigkeit:
1977 Vorlesungen zur Architekturtheorie an der Università di Reggio Calabria; 1978-1980 Gastdozentur an der ETH Zürich; 1980 Visiting Professor an der Syracuse University (NY) und Cornell-U. (NY); 1982 Gastdozentur Firenze; 1983 Gastdozentur an der Bouakademie /Amsterdam; 1979/2002 Diplombetreuerin an der Università di Roma La Sapienza und Terza Università di Roma (L.Quaroni/ F.Cellini); ab 1990 Vorlesungen und Vorträge in Europa und USA…; 1999-2001 Salzburg: Mitglied der Beratungsgruppe Stadtgestaltung;
Publikationen und Forschung:
1990 „Studio 4: ein Kino“ (mit Fredy Ehrat und Heinrich Helfenstein); 1992 „Rino Tami - Segmenti di una biografia architettonica“ GTA Institut für Geschichte u. Theorie der Architektur (mit Ph.Carrar und Werner Oechslin); 1994 „La casa di Eva in Paradiso“ Controspazio; 1996 „Due case di Peppo Brivio“(Ass. Christian Dill) Kirschgarten Basel/ETHZ Lehrstuhl F.R.R.; 1998 „Frauen in der Geschichte des Bauens“ (Ass. Petra Stojanik) ETHZ Lehrstuhl Prof. F.R.R.; 1998 „Alberto Camenzind Architekt“ ETH -GTA Institut (mit Werner Oechslin); 2000-03 „Milano-Architetture“ (Ass. Andrea Casiraghi) ETHZ Lehrstuhl Prof.F.R.R.; 2003 “Werner Stücheli Architekt” (Ass. Fredy Ehrat ) ETH- GTH Institut (W.Oechslin); weiters zahlreiche Ko-Publikationen, Interviews, Kommentare und Vorträge
Sandra Giraudi
Geboren 1962 in Vevey, Studium 1984-89 an der ETH Zürich, 1988 Sommerakademie Rhode Island School of Design, 1989 Diplom an der ETH Zürich bei Prof. Flora Ruchat Roncati, 1990 und 1992-96 Assistentin an der ETH Zürich, 1990-92 Mitarbeit im Büro Cruz-Ortiz, Sevilla; Mitglied SIA und OTIA seit 1990, FAS seit 1999; seit 1995 Architekturbüro in Lugano gemeinsam mit Felix Wettstein; 1996-99 Mitarbeit in der Redaktion „Rivista Tecnica“, 1998-2006 Mitglied der „Commissione Cantonale delle Bellezze Naturali e del Paesaggio“, 2004-07 Gastprofessur an der Accademia di architettura di Mendrisio, 2007 Mitglied des Gestaltungsbeirats von Soregno, Tessin.
Veranstaltungs-Kuratierung: Elise Feiersinger und Andreas Vass